wollte. Sie flogen mit ihr 
vom Baume hinunter und setzten sie auf ein Gänseblümchen. Da 
weinte sie, weil sie so häßlich wäre, daß sie nicht einmal die Maikäfer 
unter sich dulden wollten. 
Während des ganzen Sommers lebte Däumelieschen ganz allein in dem 
großen Walde. Sie flocht sich ein Bett aus Grashalmen und hing es 
unter einem großen Klettenblatte auf, so daß sie gegen den Regen 
geschützt war. Blütenhonig war ihre Speise und ihren Durst stillte sie 
an dem Tau, der morgens auf den Blättern stand. So verstrich Sommer 
und Herbst, aber nun kam der Winter, der kalte, lange Winter. Alle 
Vögel, die ihr so schön vorgesungen hatten, flogen ihrer Wege, die 
Bäume und Blumen welkten dahin; das große Klettenblatt, unter dem 
sie gewohnt hatte, schrumpfte zusammen, und es blieb nur noch ein 
gelber, vertrockneter Stengel. Sie fror bitterlich, ihre Kleider waren 
zerrissen und sie selbst war gar fein und klein; das arme Däumelieschen 
mußte erfrieren. Es begann zu schneien und jede Schneeflocke, die auf 
sie fiel, that dieselbe Wirkung, als wenn man auf uns eine Schaufel voll 
wirft, denn wir sind groß, sie aber war nur einen Daumen lang. Da 
hüllte sie sich in ein verwelktes Blatt, aber das erwärmte sie nicht; sie 
zitterte vor Kälte. 
Hart am Saume des Waldes, wohin sie jetzt gelangt war, lag ein großes 
Kornfeld, allein das Korn war längst eingeerntet, nur die nackten, 
trockenen Stoppeln ragten aus der gefrorenen Erde hervor. Ihr kamen 
sie wie ein großer Wald vor, den sie zu durchwandern hatte, und sie
klapperte nur so vor Kälte. Da kam sie vor die Thür der Feldmaus. 
Deren ganzes Reich bestand in einer kleinen Höhle unter den 
Kornstoppeln. Dort wohnte die Feldmaus geschützt und behaglich, 
hatte die ganze Stube voll Korn und eine prächtige Küche und 
Speisekammer. Das arme Däumelieschen stellte sich an die Thür, 
gerade wie jedes andere Bettelmädchen, und bat um ein kleines 
Stückchen Gerstenkorn, denn sie hatte seit zwei Tagen nicht das 
Geringste zu essen bekommen. 
»Du arme Kleine!« sagte die Feldmaus, denn es war im Grunde 
genommen eine gute, alte Feldmaus, »komm' in meine warme Stube 
herein und iß mit mir!« 
Da sie nun Gefallen an Däumelieschen fand, sagte sie: »Du kannst 
getrost den Winter über bei mir bleiben, aber du mußt mir die Stube 
hübsch sauber halten und mir Geschichten erzählen, denn das ist meine 
Lust!« Däumelieschen that, was die gute, alte Feldmaus verlangte und 
hatte es ganz vortrefflich bei ihr. 
»Nun bekommen wir gewiß bald Besuch!« sagte die Feldmaus. »Mein 
Nachbar pflegt mich täglich zu besuchen. Der hat noch mehr vor sich 
gebracht, als ich, hat große Säle und geht in einem herrlichen 
schwarzen Sammetpelze einher. Könntest du den zum Manne 
bekommen, dann wärest du gut versorgt.« 
Doch Däumelieschen mochte den Nachbar gar nicht haben, denn er war 
ein Maulwurf. Er kam und machte in seinem schwarzen Sammetpelze 
seine Aufwartung. Er wäre sehr reich und sehr gelehrt, sagte die 
Feldmaus. Seine Wohnung war auch in der That zwanzigmal größer als 
die der Feldmaus, und Gelehrsamkeit besaß er, aber die Sonne und die 
herrlichen Blumen konnte er gar nicht leiden; über sie wußte er nur 
Schlimmes zu erzählen, weil er sie nie gesehen hatte. 
Er hatte sich vor Kurzem einen langen Gang von seinem bis zu ihrem 
Hause durch die Erde gegraben; in ihm durfte die Feldmaus und 
Däumelieschen mit seiner Erlaubnis nach Herzenslust spazieren. Er bat 
sie aber, nicht vor dem toten Vogel zu erschrecken, der im Gange läge. 
Es war ein ganzer Vogel mit Federn und Schnabel, der erst kürzlich
beim Beginn des Winters gestorben sein konnte und nun gerade da 
begraben war, wo er seinen Gang angelegt hatte. 
Der Maulwurf nahm ein faules Stück Holz in das Maul, weil es im 
Dunkeln wie Feuer schimmert, ging dann voran und leuchtete ihnen in 
dem langen, finsteren Gange. Als sie zu der Stelle gelangten, wo der 
tote Vogel lag, drückte der Maulwurf mit seiner breiten Nase gegen das 
Gewölbe und stieß die Erde auf, so daß ein großes Loch entstand, durch 
welches das Licht hereinschimmerte. Mitten auf dem Boden lag eine 
tote Schwalbe, die schönen Flügel fest an die Seite gedrückt, die Beine 
und den Kopf unter die Federn gezogen. Der arme Vogel war sicher vor 
Kälte gestorben. Däumelieschen hatte inniges Mitleid mit ihr, sie liebte 
alle die kleinen Vögel, hatten sie ihr doch den ganzen Sommer 
hindurch so schön etwas vorgesungen und vorgezwitschert, aber der 
Maulwurf stieß ihn mit seinen kurzen Beinen und sagte: »Nun pfeift er 
nicht mehr! Es muß doch jämmerlich sein, als kleiner Vogel geboren zu 
werden! Außer seinem »Quivit« hat ja ein solcher Vogel durchaus 
nichts und muß im Winter elendiglich verhungern!« 
»Ja, das könnt Ihr als vernünftiger Mann wohl sagen!« entgegnete die 
Feldmaus. »Was hat ein Vogel für all sein Quivit, wenn der Winter 
kommt? Er muß elendiglich verhungern und erfrieren.« 
Däumelieschen    
    
		
	
	
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