daß die Zeit unvermerkt dahinging und sie ganz unerwartet 
oben auf der Weide anlangten. Der Peter hatte im Hinaufgehen öfters 
seitwärts auf den Herrn Doktor Blicke geworfen, die diesem einen 
rechten Schrecken hätten beibringen können; er sah sie aber 
glücklicherweise nicht. 
Oben angelangt, führte das Heidi seinen guten Freund gleich auf die 
schönste Stelle, wohin es immer ging und sich auf den Boden setzte 
und umherschaute, denn da gefiel es ihm am besten. Es tat, wie es 
gewohnt war, und der Herr Doktor ließ sich gleich auch neben Heidi 
auf den sonnigen Weideboden nieder. Ringsum leuchtete der goldene 
Herbsttag über die Höhen und das weite grüne Tal. Von den unteren 
Alpen tönten überall die Herdenglocken herauf, so lieblich und 
wohltuend, als ob sie weit und breit den Frieden einläuteten. Auf dem 
großen Schneefelde drüben blitzten funkelnd und flimmernd goldene 
Sonnenstrahlen hin und her, und der graue Falknis hob seine 
Felsentürme in alter Majestät hoch in den dunkelblauen Himmel hinauf. 
Der Morgenwind wehte leise und wonnig über die Alp und bewegte nur 
sachte die letzten blauen Glockenblümchen, die noch übriggeblieben 
waren von der großen Schar des Sommers und nun noch wohlig ihre 
Köpfchen im warmen Sonnenscheine wiegten. Obenhin flog der große 
Raubvogel in weiten Bogen umher, aber er krächzte heute nicht. Mit 
ausgebreiteten Flügeln schwamm er ruhig durch die Bläue und ließ 
sich's wohl sein. Das Heidi guckte dahin und dorthin. Die lustig 
nickenden Blumen, der blaue Himmel, der fröhliche Sonnenschein, der 
vergnügte Vogel in den Lüften, alles war so schön, so schön! Heidis 
Augen funkelten vor Wonne. Nun schaute es nach seinem Freunde, ob
er auch alles recht sehe, was so schön war. Der Herr Doktor hatte bis 
jetzt still und gedankenvoll um sich geblickt. Wie er nun den 
freudeglänzenden Augen des Kindes begegnete, sagte er: 
»Ja, Heidi, es könnte schön sein hier, aber was meinst du? Wenn einer 
ein trauriges Herz hierher brächte, wie müßte er es wohl machen, daß 
er an all dem Schönen sich freuen könnte?« 
»Oh, oh!« rief das Heidi ganz fröhlich aus. »Hier hat man gar nie ein 
trauriges Herz, nur in Frankfurt.« 
Der Herr Doktor lächelte ein wenig, aber das ging schnell vorüber. 
Dann sagte er wieder: »Und wenn einer käme und alles Traurige aus 
Frankfurt mit hier heraufbrächte, Heidi; weißt du da auch noch etwas, 
das ihm helfen könnte?« 
»Man muß nur alles dem lieben Gott sagen, wenn man gar nicht mehr 
weiß, was machen«, sagte das Heidi ganz zuversichtlich. 
»Ja, das ist schon ein guter Gedanke, Kind«, bemerkte der Herr Doktor. 
»Wenn es aber von ihm selbst kommt, was so ganz traurig und elend 
macht, was kann man da dem lieben Gott sagen?« 
Das Heidi mußte nachdenken, was dann zu machen sei; es war aber 
ganz zuversichtlich, daß man für alle Traurigkeit eine Hilfe vom lieben 
Gott erhalten könne. Es suchte seine Antwort in seinen eigenen 
Erlebnissen. 
»Dann muß man warten«, sagte es nach einer Weile mit Sicherheit, 
»und nur immer denken: jetzt weiß der liebe Gott schon etwas 
Freudiges, das dann nachher aus dem anderen kommt, man muß nur 
noch ein wenig still sein und nicht fortlaufen. Dann kommt auf einmal 
alles so, daß man ganz gut sehen kann, der liebe Gott hatte die ganze 
Zeit nur etwas Gutes im Sinn gehabt; aber weil man das vorher noch 
nicht so sehen kann, sondern immer nur das furchtbar Traurige, so 
denkt man, es bleibe dann immer so.« 
»Das ist ein schöner Glaube, den mußt du festhalten, Heidi«, sagte der
Herr Doktor. Eine Weile schaute er schweigend auf die mächtigen 
Felsenberge hinüber und in das sonnenleuchtende grüne Tal hinab, 
dann sagte er wieder: 
»Siehst du, Heidi, es könnte einer hier sitzen, der einen großen Schatten 
auf den Augen hätte, so daß er das Schöne gar nicht aufnehmen könnte, 
das ihn hier umgibt. Dann möchte doch wohl das Herz traurig werden 
hier, doppelt traurig, wo es so schön sein könnte. Kannst du das 
verstehen?« 
Jetzt schoß dem Heidi etwas Schmerzliches in sein frohes Herz. Der 
große Schatten auf den Augen brachte ihm die Großmutter in 
Erinnerung, die ja nie mehr die helle Sonne und all das Schöne hier 
oben sehen konnte. Das war ein Leid in Heidis Herzen, das immer neu 
erwachte, sobald die Sache ihm wieder ins Bewußtsein kam. Es 
schwieg eine Weile ganz still, denn das Weh hatte es so mitten in die 
Freude hineingetroffen. Dann sagte es ernsthaft: 
»Ja, das kann ich schon verstehen. Aber ich weiß etwas: Dann muß 
man die Lieder der Großmutter sagen, die machen einem wieder ein 
wenig helle und manchmal so hell, daß man ganz fröhlich wird. Das hat 
die Großmutter gesagt.« 
»Welche Lieder, Heidi?« fragte der Herr Doktor. 
»Ich kann nur das von der Sonne und dem schönen Garten und noch 
von dem andern langen die Verse, die der Großmutter lieb sind, denn 
die muß ich immer    
    
		
	
	
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