Fräulein Julie | Page 2

August Strindberg
ja etwas Gutes für ein anderes Geschlecht, welches dadurch
emporkommen kann, und der Wechsel von Steigen und Fallen bildet
gerade eine der größten Annehmlichkeiten des Lebens, da das Glück
nur in dem Vergleich liegt. Und den Programmenschen, welcher dem
peinlichen Umstande, daß der Raubvogel die Taube frißt und die Laus
wieder den Raubvogel, will ich fragen: warum soll dem abgeholfen
werden? Das Leben ist nicht so mathematisch-idiotisch, daß nur die
Großen die Kleinen auffressen, sondern es kommt oft vor, daß die
Biene den Löwen tötet oder ihn zum wenigsten toll macht.
Daß mein Trauerspiel einen traurigen Eindruck auf viele macht, ist also
der Fehler dieser. Wenn wir stark werden, wie die ersten französischen
Revolutionsmänner, wird es unbedingt einen guten und frohen
Eindruck machen, der Ausrottung eines Parkes von morschen,
überjährigen Bäumen zuzusehen, welche anderen zu lange im Wege
standen, die ebenfalls das gleiche Recht hatten, ihre Zeit zu vegetieren
-- einen guten Eindruck, gleich wie wenn man einen unheilbar Kranken
sieht, der endlich sterben kann.
Man warf kürzlich meinem Trauerspiel »Der Vater«[A] vor, es wäre so
traurig, gleich als wenn man ein lustiges Trauerspiel forderte. Man ruft
anspruchsvoll nach der Lebensfreude, und die Theaterdirektoren

fordern Farcen, gleich als wenn die Lebensfreude darin läge, albern zu
sein und Menschen zu zeichnen, welche allesamt am Veitstanz oder
Idiotismus litten. Ich finde die Lebensfreude in den starken, grausigen
Kämpfen des Lebens, und es bereitet mir Genuß, etwas erfahren, etwas
lernen zu können. Und darum habe ich einen ungewöhnlichen, aber
lehrreichen Fall gewählt, mit einem Wort eine Ausnahme, aber eine
große Ausnahme, welche die Regel bekräftigt, was sicherlich
diejenigen, die das Alltägliche lieben, verletzen wird. Was ferner bei
einzelnen Anstoß erregen wird, ist, daß meine Motivierung der
Handlung nicht einfach ist, und es nicht nur einen Gesichtspunkt dafür
giebt. Ein Ereignis im Leben -- und das ist eine ziemlich neue
Entdeckung -- wird gewöhnlich von einer ganzen Reihe mehr oder
minder tiefliegender Motive hervorgerufen, aber der Zuschauer wählt
meistens dasjenige, welches seiner Urteilskraft das am leichtesten
faßliche oder für seine Urteilsgabe das ehrenvollste ist. Es ist z.B. ein
Selbstmord begangen worden. »Schlechte Geschäfte!« sagt der Bürger.
-- »Unglückliche Liebe!« sagen die Frauenzimmer. -- »Krankheit!« der
Kranke. -- »Getäuschte Hoffnungen!« der Schiffbrüchige. Aber nun
kann es vorkommen, daß das Motiv hier überall oder nirgend zu suchen
war, und daß der Verstorbene das Grundmotiv dadurch verbarg, daß er
ein ganz anderes vorschob, welches das vorteilhafteste Licht über sein
Gedächtnis werfen könnte!
[Anmerkung A: Deutsche Ausgabe von E. Brausewetter,
Universal-Bibliothek Nr. 2489.]
Fräulein Juliens trauriges Schicksal habe ich durch eine ganze Menge
von Umständen motiviert: die Grundinstinkte der Mutter; die falsche
Erziehung des Mädchens durch den Vater; das eigene Naturell und die
Suggestionen des Bräutigams auf das schwache degenerierte Hirn;
sodann auch momentane: die Feststimmung der Johannisnacht; die
Abwesenheit des Vaters; die Beschäftigung mit dem Tiere; der
aufregende Einfluß des Tanzes; die Dämmerung der Nacht; die starke,
berauschende Wirkung der Blumen; und schließlich der Zufall, welcher
die beiden in einen geheimen Raum zusammentreibt, sowie die
aufregende Zudringlichkeit des Mannes.

Ich bin also nicht einseitig physiologisch verfahren, auch nicht
monoman psychologisch, ich habe die Schuld nicht nur der Vererbung
von der Mutter oder ausschließlich der »Unsittlichkeit« aufgebürdet,
noch bloß Moral gepredigt.
Dieser Mannigfaltigkeit der Motive will ich mich rühmen, da sie mit
der Forderung der Zeit übereinstimmt! Und haben es andere schon vor
mir so gemacht, so rühme ich mich mit meinen Paradoxen, wie alle
Entdeckungen genannt werden, nicht allein zu stehen.
Was die Charakterzeichnung anbetrifft, so habe ich die Figuren
ziemlich »charakterlos« gezeichnet und zwar aus folgenden Gründen:
Das Wort Charakter hat im Lauf der Zeiten eine mehrfache Bedeutung
bekommen. Es bedeutete wohl ursprünglich den herrschenden
Grundzug im Seelenkomplex und wurde mit Temperament verwechselt.
Dann wurde es der Ausdruck der Mittelklasse für den Automaten;
sodaß ein Individuum, welches ein für allemal bei seinem Naturell
stehen geblieben ist oder sich einer gewissen Rolle im Leben angepaßt
hat, welches also mit einem Wort gesagt, aufgehört hat zu wachsen, ein
Charakter genannt wurde, und der in der Entwickelung Befindliche, der
geschickte Schiffer auf dem Strome des Lebens, welcher nicht mit
fester Schote segelt, sondern den Kahn vor dem Windstoß fallen läßt,
um ihn hernach wieder aufzuluven, wurde charakterlos genannt. Im
herabsetzenden Sinne natürlich, da er ja so schwer einzufangen,
einzuregistrieren und zu kontrollieren war. Dieser bürgerliche Begriff
von der Unveränderlichkeit der Seele wurde dann auf das Theater
übertragen, wo ja das Bürgerliche immer geherrscht hat. Ein Charakter
war dort ein Herr, welcher fix und fertig war, welcher unveränderlich
als Betrunkener, als Spaßmacher, als Betrübter auftrat; und um zu
charakterisieren bedurfte es nur, dem Körper ein Gebrechen
anzudichten, einen Klumpfuß, ein hölzernes Bein, eine rote Nase, oder
daß man den Betreffenden einen Ausruf gebrauchen ließ wie diesen:
»das war galant«, »Barkis will gern« oder dergleichen. Bei dieser Art
und Weise, die Menschen so
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