Spanien ist Velazquez und Cervantes genau so völlig 
unbekannt, wie dem englischen Arbeiter Shakespeare und Byron, wie 
dem französischen Rabelais und Molière, wie dem holländischen 
Rembrandt und Rubens sind. Das deutsche Volk hat nicht die geringste 
Ahnung von Goethe und Schiller, es kennt die Bürger und Heine nicht 
einmal dem Namen nach. Die kleinen Rundfragen bei den Soldaten 
einzelner Regimenter: »Wer war Bismarck? -- Wer war Goethe?« 
sollten doch dem vertrauensseligsten Blinden endlich die Augen öffnen. 
Ganze Welten trennen den Kulturmenschen in Deutschland von seinen 
Landsleuten, die er täglich auf der Strasse sieht: ein Nichts aber, eine 
Wasserrinne nur, trennt ihn von dem Kulturmenschen in Amerika. 
Heine fühlte das und warf es den Frankfurtern ins Gesicht, Edgar Allan 
Poe sprach es noch viel klarer aus. Die meisten Künstler aber und 
Gelehrten und Gebildeten aller Völker hatten ein so geringes 
Verständnis dafür, dass bis auf unsere Tage Horaz' feines »Odi 
profanum« falsch ausgelegt wird! Der Künstler, der für »sein Volk« 
schaffen will, erstrebt etwas Unmögliches und vernachlässigt darüber
häufig etwas Erreichbares und doch Höheres: für die ganze Welt zu 
schaffen. Über dem Deutschen, über dem Briten und Franzosen steht 
eine höhere Nation: die Kulturnation; für sie zu schaffen, ist des 
Künstlers allein würdig. Hier war Poe bodenständig, so wie es Goethe 
war, wenn auch in anderm, ebenso bewusstem, aber längst nicht so 
modernem Sinne. 
* * * 
[Abbildung: DIE WASSERGRUBE UND DAS PENDEL Zeichnung 
von C. F. Tilney] 
Ganz langsam schreite ich im Parke der Alhambra unter den alten 
Ulmen, die Wellington pflanzte. Zu allen Seiten plätschern die raschen 
Quellen, mischen ihren Singsang mit den süssen Liedern von hundert 
Nachtigallen. Zwischen den hohen Türmen schreite ich in dem üppigen 
Tale der Alhambra. 
Wem gehört dieses Zauberschloss, dieser Träumegarten? Der 
spanischen Bettelnation, die ich verachte? Dem Fremdenpöbel mit dem 
roten Buche in der Hand, dem ich auf zehn Schritte schon aus dem 
Wege gehe? O nein! Mir gehört es, mir und den wenigen, die diese 
Schönheit in ihre Seele aufzunehmen vermögen. Deren Hauch diesen 
Steinen, diesen Sträuchern Leben zu leihen vermag, deren Geist es 
versteht, diese +Schönheit zur Wahrheit zu machen+. Alles um mich 
herum und all das andere, was schön ist auf dieser Erde, ist ein heiliges, 
unverletzliches Eigentum der Kulturnation, die über den Völkern steht. 
Sie ist Herrscherin, sie ist Besitzerin: einen andern Herrn duldet die 
Schönheit nicht. Das begreifen heisst die Welt ergreifen: Edgar Allan 
Poe tat es als Erster. 
Ich sitze auf der Steinbank, auf der Aboul-Haddjâdj einst träumte. Vor 
mir springt ein Quell in die Höhe, fällt in das runde Marmorbecken. Ich 
weiss wohl, warum der Sultan hier sass, allein in den Dämmerstunden: 
o, es ist so süss, hier zu träumen. 
War einst ein Dichter, der schrieb nichts anderes, als Gespräche mit 
Toten. Mit allen sieben Weisen plauderte er und allen Königen Ninives.
Und mit ägyptischen Priestern und thessalischen Hexen, mit Athens 
Sängern, mit Roms Feldherrn und mit König Artus' Tafelrunde. 
Schliesslich mochte er mit keinem lebenden Menschen mehr reden: die 
Toten sind so viel unterhaltsamer! -- O, man kann mit ihnen plaudern, 
gewiss doch. Alle Träumer können es, und +alle die, die an Träume 
glauben+, als an das einzig Wirkliche. 
Bin ich nicht heute mit ihm, den ich liebe, dort oben durch die Säle 
gewandert? Habe ich nicht dem Toten ein Teil von der Welten 
Schönheit gezeigt, die des Lebenden Augen nie sahen? Nun steht er da 
vor mir, an die Ulme gelehnt -- -- 
»Frage nur,« sagt er. 
Er fühlt wohl, wie ich mit den Augen ihn liebkosend frage. Und er 
spricht. Bald tropfen die Worte klar von den Lippen, bald plätschert 
seine Stimme aus dem Springbrunn, sie singt aus den Kehlen der 
Nachtigallen und rauscht mit den Blättern der alten Ulmen. So klug 
sind die Toten. 
»Lass du mein armes Leben,« sagt Edgar Allan Poe. »Frage Goethe 
darnach, der ein Fürst war, der sechs Hengste zahlte und mit ihnen 
durch die Welten jagte. Ich war ein Einsamer.« 
Ich lass den Blick nicht von ihm: »Erzähle! Denen, die dich lieben, und 
die du liebst!« 
»Das Leben vergass ich, das ich lebte,« sagte er, »o nicht erst, seit ich 
tot bin, wie die Menschlein sagen. Jeden Tag vergass ich am nächsten 
Tage -- -- hätte ich sonst weiter leben können? -- Mein wahres Leben 
aber, mein Leben in meinen Träumen, das kennst du ja!« 
-- -- Vom Boden her huscht ein leichter Nebel durch den Abend, eine 
süsse Kühle fächelt meine Schläfen. Freilich: das Leben seiner Träume 
kenn ich wohl, schenkte er es doch mir und der Welt. Und langsam lass 
ich dies Leben in seinen Dichtungen vor mir vorübergleiten. 
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