Die Organisation der Rohstoffversorgung | Page 2

Walther Rathenau
des Kriegsministeriums war geweckt. Als ich bekümmert und
sorgenvoll heimkehrte, fand ich ein Telegramm des Kriegsministers
von Falkenhayn, das mich auf den nächsten Vormittag in sein
Amtszimmer bestellte.
Es war Sonntag der 9. August. Ich dankte dem Minister und sagte ihm:
ich bewunderte, daß er in dieser Mobilmachungszeit in der Lage sei,
seine Zeit zu opfern, um sich mit fremden Gedanken zu befassen. Er
antwortete, indem er auf seinen Schreibtisch wies: Sie sehen, dieser
Tisch ist leer.
Die große Arbeit ist getan, die Mobilmachung ist vorüber; es ist nicht
eine Reklamation gekommen, und ich habe Zeit Besuche zu
empfangen.
Die Unterhaltung währte einen Teil des Vormittags, und als sie endete,
war der Beschluß des Kriegsministers gefaßt, eine Organisation zu
schaffen, gleichviel wie groß, gleichviel mit welchen Mitteln; sie

mußte wirksam sein und mußte die Aufgabe lösen, die uns auferlegt
war. In diesem entscheidenden Augenblick brachte der kühne,
verantwortungsvolle Entschluß des Preußischen Kriegsministeriums
den Wendepunkt auf dem Gebiet, von dem ich zu Ihnen sprechen darf.
Ich wollte mich verabschieden; der Kriegsminister behielt mich dort,
indem er mir die unerwartete Zumutung stellte, ich sollte die
Organisation dieser Arbeit übernehmen. Vorbereitet war ich nicht;
Bedenkzeit wollte ich mir ausbitten, das wurde nicht zugelassen, meine
Zustimmung hatte ich zu geben und so sah ich mich wenige Tage
darauf im Kriegsministerium untergebracht.
Die »Kriegs-Rohstoff-Abteilung« war durch Ministerialerlaß errichtet;
sie hatte einen zweiköpfigen Vorstand, bestehend aus einem Obersten
a. D., einem erfahrenen Mann, der gewißermaßen die militärische
Deckung darstellte und die Erfahrungen des Kriegsministeriums in
unserer jungen Abteilung verkörperte, und mir, dem die Aufgabe
gestellt war, die Organisation zu schaffen. So saßen wir in vier kleinen
Zimmern zu dritt mit einem Geheimen expedierenden Sekretär, der uns
beigegeben war, und dessen praktische Erfahrungen wir in den
Fährnissen der Geschäftsordnung schätzen lernten.
Es war Mitte August. Vor meinem Fenster breitete ein wundervoller
Ahorn seine Äste aus und überschattete das Dach. Unten lag der schöne
Garten des Kriegsministeriums, darin schritt eine Wache langsam auf
und ab; zwei alte Kanonen standen auf dem Rasen in der Sonne. Und
hinter dieser friedlichen Stille ein hoher Schornstein; der deutete auf
das Riesengebiet der deutschen Wirtschaft, das sich jenseits ausbreitete
bis zu unseren flammenden Grenzen. Dieses Gebiet der donnernden
Bahnen, der rauchenden Essen, der glühenden Hochöfen, der sausenden
Spindeln, dieses unermeßliche Wirtschaftsgebiet dehnte sich vor dem
geistigen Auge, und uns war die Aufgabe gestellt, diese Welt, diese
webende und strebende Welt zusammenzufassen, sie dem Kriege
dienstbar zu machen, ihr einen einheitlichen Willen aufzuzwingen und
ihre titanischen Kräfte zur Abwehr zu wecken.
Das erste, was geschehen mußte, war, Menschen zu finden. Ich trat an
Freunde heran, und gewann als stellvertretendes Vorstandsmitglied

meinen Kollegen von der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft,
Professor Klingenberg. Es gelang mir ferner, meinen Freund von
Moellendorff als Mitarbeiter zu gewinnen, der zuerst in
freundschaftlichen Unterhaltungen den Finger auf diese ernste Wunde
unserer Wirtschaft gelegt hatte. Nun waren wir zu fünft, die Arbeit
konnte beginnen.
Die erste Frage, die uns entgegentrat, war die Frage der Deckung. Wir
mußten wissen, auf wieviel Monate das Land mit unentbehrlichen
Stoffen versorgt war; davon hing jede Maßnahme ab. Die Meinungen
der Industriellen widersprachen sich und gingen manchmal um das
zehnfache auseinander.
Eine maßgebliche Stelle fragte ich: Wie ist es, kann man eine Statistik
über diese Sachen bekommen? »Jawohl«, sagte man mir, »diese
Statistik ist zu schaffen«. Wann? »Etwa in sechs Monaten«. Und wenn
ich sie in vierzehn Tagen haben muß, weil die Sache drängt? Da
antwortete man mir: »Da gibt es keine«. Ich mußte sie aber haben, und
hatte sie in vierzehn Tagen.
Erforderlich war ein gewagter Griff, eine Hypothese; und diese
Hypothese hat sich bewährt. Angenommen wurde, daß das
Deckungsverhältnis im Durchschnitt der deutschen Wirtschaft
annähernd das gleiche sein müßte, wie bei einer größeren, beliebig
herausgegriffenen Gruppe. 900 bis 1000 Lieferanten hatte das
Kriegsministerium. Wenn wir eine Rundfrage veranstalteten bei diesen
Lieferanten und uns nach ihrem Deckungsverhältnis in den
verschiedenen Stoffen erkundigten, so konnten wir mit einiger
Wahrscheinlichkeit erwarten, die Größenordnung der Deckung des
Landes zu bekommen. Auf Bruchteile kam es nicht an, es handelte sich
um große Züge. Das Experiment gelang. Nach vierzehn Tagen lichtete
sich das Dunkel, nach drei Wochen wußten wir Bescheid. Bei wenigen
Stoffen überschritt die Deckung des damals vorhandenen, seither weit
überschrittenen Kriegsbedarfs die Frist eines Jahres; fast durchweg war
sie erheblich geringer.
Der Kreis der Stoffe, die wir zu bewirtschaften hatten, schien
ursprünglich klein; ausgeschlossen war das Gebiet der Nahrungsmittel

und der flüssigen Brennstoffe, eingeschlossen war alles, was
Kriegsrohstoff genannt wurde. Die amtliche Definition lautete: »solche
Stoffe, die der Landesverteidigung dienen und die nicht dauernd oder
ausreichend im Inlande gewonnen werden können«. Als unzulänglich
erkannt waren zu Anfang wenig mehr als ein Dutzend, später stieg die
Zahl von Woche zu Woche und am Schluß war es ein reichliches
Hundert.
Was wir jetzt besaßen, war noch wenig, aber es bot eine Grundlage.
Wir wußten jetzt:
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