Die Geburt der Tragödie | Page 2

Friedrich Wilhelm Nietzsche
jugendwidrigen Aufgabe erwachsen! Aufgebaut aus lauter vorzeitigen übergrünen Selbsterlebnissen, welche alle hart an der Schwelle des Mittheilbaren lagen, hingestellt auf den Boden der Kunst - denn das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden - ein Buch vielleicht für Künstler mit dem Nebenhange analytischer und retrospektiver F?higkeiten (das heisst für eine Ausnahme- Art von Künstlern, nach denen man suchen muss und nicht einmal suchen m?chte...), voller psychologischer Neuerungen und Artisten-Heimlichkeiten, mit einer Artisten-Metaphysik im Hintergrunde, ein Jugendwerk voller Jugendmuth und Jugend-Schwermuth, unabh?ngig, trotzig-selbstst?ndig auch noch, wo es sich einer Autorit?t und eignen Verehrung zu beugen scheint, kurz ein Erstlingswerk auch in jedem schlimmen Sinne des Wortes, trotz seines greisenhaften Problems, mit jedem Fehler der Jugend behaftet, vor allem mit ihrem "Viel zu lang", ihrem "Sturm und Drang": andererseits, in Hinsicht auf den Erfolg, den es hatte (in Sonderheit bei dem grossen Künstler, an den es sich wie zu einem Zwiegespr?ch wendete, bei Richard Wagner) ein bewiesenes Buch, ich meine ein solches, das jedenfalls "den Besten seiner Zeit" genug gethan hat. Darauf hin sollte es schon mit einiger Rücksicht und Schweigsamkeit behandelt werden; trotzdem will ich nicht g?nzlich unterdrücken, wie unangenehm es mir jetzt erscheint, wie fremd es jetzt nach sechzehn Jahren vor mir steht, - vor einem ?lteren, hundert Mal verw?hnteren, aber keineswegs k?lter gewordenen Auge, das auch jener Aufgabe selbst nicht fremder wurde, an welche sich jenes verwegene Buch zum ersten Male herangewagt hat, - die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens....
3.
Nochmals gesagt, heute ist es mir ein unm?gliches Buch, - ich heisse es schlecht geschrieben, schwerf?llig, peinlich, bilderwüthig und bilderwirrig, gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauberkeit, sehr überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend, misstrauisch selbst gegen die Schicklichkeit des Beweisens, als Buch für Eingeweihte, als "Musik" für Solche, die auf Musik getauft, die auf gemeinsame und seltene Kunst-Erfahrungen hin von Anfang der Dinge an verbunden sind, als Erkennungszeichen für Blutsverwandte in artibus, - ein hochmüthiges und schw?rmerisches Buch, das sich gegen das profanum vulgus der "Gebildeten" von vornherein noch mehr als gegen das "Volk" abschliesst, welches aber, wie seine Wirkung bewies und beweist, sich gut genug auch darauf verstehen muss, sich seine Mitschw?rmer zu suchen und sie auf neue Schleichwege und Tanzpl?tze zu locken. Hier redete jedenfalls - das gestand man sich mit Neugierde ebenso als mit Abneigung ein - eine fremde Stimme, der Jünger eines noch "unbekannten Gottes", der sich einstweilen unter die Kapuze des Gelehrten, unter die Schwere und dialektische Unlustigkeit des Deutschen, selbst unter die schlechten Manieren des Wagnerianers versteckt hat; hier war ein Geist mit fremden, noch namenlosen Bedürfnissen, ein Ged?chtniss strotzend von Fragen, Erfahrungen, Verborgenheiten, welchen der Name Dionysos wie ein Fragezeichen mehr beigeschrieben war; hier sprach - so sagte man sich mit Argwohn - etwas wie eine mystische und beinahe m?nadische Seele, die mit Mühsal und willkürlich, fast unschlüssig darüber, ob sie sich mittheilen oder verbergen wolle, gleichsam in einer fremden Zunge stammelt. Sie h?tte singen sollen, diese "neue Seele" - und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich h?tte es vielleicht gekonnt! Oder mindestens als Philologe: - bleibt doch auch heute noch für den Philologen auf diesem Gebiete beinahe Alles zu entdecken und auszugraben! Vor allem das Problem, dass hier ein Problem vorliegt, - und dass die Griechen, so lange wir keine Antwort auf die Frage "was ist dionysisch?" haben, nach wie vor g?nzlich unerkannt und unvorstellbar sind...
4.
Ja, was ist dionysisch? - In diesem Buche steht eine Antwort darauf, - ein "Wissender" redet da, der Eingeweihte und Jünger seines Gottes. Vielleicht würde ich jetzt vorsichtiger und weniger beredt von einer so schweren psychologischen Frage reden, wie sie der Ursprung der Trag?die bei den Griechen ist. Eine Grundfrage ist das Verh?ltniss des Griechen zum Schmerz, sein Grad von Sensibilit?t, - blieb dies Verh?ltniss sich gleich? oder drehte es sich um? - jene Frage, ob wirklich sein immer st?rkeres Verlangen nach Sch?nheit, nach Festen, Lustbarkeiten, neuen Culten, aus Mangel, aus Entbehrung, aus Melancholie, aus Schmerz erwachsen ist? Gesetzt n?mlich, gerade dies w?re wahr - und Perikles (oder Thukydides) giebt es uns in der grossen Leichenrede zu verstehen -: woher müsste dann das entgegengesetzte Verlangen, das der Zeit nach früher hervortrat, stammen, das Verlangen nach dem H?sslichen, der gute strenge Wille des ?lteren Hellenen zum Pessimismus, zum tragischen Mythus, zum Bilde alles Furchtbaren, B?sen, R?thselhaften, Vernichtenden, Verh?ngnissvollen auf dem Grunde des Daseins, - woher müsste dann die Trag?die stammen? Vielleicht aus der Lust, aus der Kraft, aus überstr?mender Gesundheit, aus übergrosser Fülle? Und welche Bedeutung hat dann, physiologisch gefragt, jener Wahnsinn, aus dem die tragische wie die komische Kunst erwuchs, der dionysische Wahnsinn? Wie? Ist Wahnsinn
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