Die Geburt der Tragödie | Page 9

Friedrich Wilhelm Nietzsche
eigentlich so fremd nicht sei, ja dass sein apollinisches Bewusstsein nur wie ein Schleier diese dionysische Welt vor ihm verdecke.
3.
Um dies zu begreifen, müssen wir jenes kunstvolle Geb?ude der apollinischen Cultur gleichsam Stein um Stein abtragen, bis wir die Fundamente erblicken, auf die es begründet ist. Hier gewahren wir nun zuerst die herrlichen olympischen G?ttergestalten, die auf den Giebeln dieses Geb?udes stehen, und deren Thaten in weithin leuchtenden Reliefs dargestellt seine Friese zieren. Wenn unter ihnen auch Apollo steht, als eine einzelne Gottheit neben anderen und ohne den Anspruch einer ersten Stellung, so dürfen wir uns dadurch nicht beirren lassen. Derselbe Trieb, der sich in Apollo versinnlichte, hat überhaupt jene ganze olympische Welt geboren, und in diesem Sinne darf uns Apollo als Vater derselben gelten. Welches war das ungeheure Bedürfniss, aus dem eine so leuchtende Gesellschaft olympischer Wesen entsprang?
Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympier herantritt und nun nach sittlicher H?he, ja Heiligkeit, nach unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei ihnen sucht, der wird unmuthig und entt?uscht ihnen bald den Rücken kehren müssen. Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein üppiges, ja triumphirendes Dasein zu uns, in dem alles Vorhandene verg?ttlicht ist, gleichviel ob es gut oder b?se ist. Und so mag der Beschauer recht betroffen vor diesem phantastischen Ueberschwang des Lebens stehn, um sich zu fragen, mit welchem Zaubertrank im Leibe diese übermüthigen Menschen das Leben genossen haben m?gen, dass, wohin sie sehen, Helena, das "in süsser Sinnlichkeit schwebende" Idealbild ihrer eignen Existenz, ihnen entgegenlacht. Diesem bereits rückw?rts gewandten Beschauer müssen wir aber zurufen: "Geh' nicht von dannen, sondern h?re erst, was die griechische Volksweisheit von diesem selben Leben aussagt, das sich hier mit so unerkl?rlicher Heiterkeit vor dir ausbreitet. Es geht die alte Sage, dass K?nig Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die H?nde gefallen ist, fragt der K?nig, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der D?mon; bis er, durch den K?nig gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht: `Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu h?ren für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich g?nzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich - bald zu sterben`."
Wie verh?lt sich zu dieser Volksweisheit die olympische G?tterwelt? Wie die entzückungsreiche Vision des gefolterten M?rtyrers zu seinen Peinigungen.
Jetzt ?ffnet sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu k?nnen, musste er vor sie hin die gl?nzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes ungeheure Misstrauen gegen die titanischen M?chte der Natur, jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira jener Geier des grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes Schreckensloos des weisen Oedipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Muttermorde zwingt, kurz jene ganze Philosophie des Waldgottes, sammt ihren mythischen Exempeln, an der die schwermüthigen Etrurier zu Grunde gegangen sind - wurde von den Griechen durch jene künstlerische Mittelwelt der Olympier fortw?hrend von Neuem überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick entzogen. Um leben zu k?nnen, mussten die Griechen diese G?tter, aus tiefster N?thigung, schaffen: welchen Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der ursprünglichen titanischen G?tterordnung des Schreckens durch jenen apollinischen Sch?nheitstrieb in langsamen Ueberg?ngen die olympische G?tterordnung der Freude entwickelt wurde: wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen. Wie anders h?tte jenes so reizbar empfindende, so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig bef?higte Volk das Dasein ertragen k?nnen, wenn ihm nicht dasselbe, von einer h?heren Glorie umflossen, in seinen G?ttern gezeigt worden w?re. Derselbe Trieb, der die Kunst in's Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Erg?nzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische Welt entstehn, in der sich der hellenische "Wille" einen verkl?renden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die G?tter das Menschenleben, indem sie es selbst leben - die allein genügende Theodicee! Das Dasein unter dem hellen Sonnenscheine solcher G?tter wird als das an sich Erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche Schmerz der homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem auf das baldige Abscheiden: so dass man jetzt von ihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen k?nnte, "das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste, überhaupt einmal zu sterben". Wenn die Klage einmal ert?nt, so klingt sie wieder vom kurzlebenden Achilles, von dem bl?ttergleichen Wechsel und Wandel des Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit. Es ist des gr?ssten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben zu sehnen, sei es selbst als Tagel?hner. So ungestüm verlangt, auf der apollinischen Stufe, der "Wille" nach diesem Dasein, so eins fühlt sich der homerische Mensch mit ihm,
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