Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde | Page 2

Klabund
verübt. Lange bleibt sie ungestraft; die Vergeltung droht von ferne und rückt in mahnenden Weissagungen n?her; endlich wird sie vollbracht. Ein unentfliehbares Verh?ngnis verwickelt Schuldige und Unschuldige in den allgemeinen Fall, eine Heldenwelt bricht in Trümmer.? Haben wir nicht alle das Nibelungenlied am eigenen Leib und an eigener Seele verspürt? Ein unentfliehbares Schicksal hat uns, Schuldige und Unschuldige, in den allgemeinen Fall verwickelt, und eine Welt ist in Trümmer gebrochen.
Das Gudrunlied (um 1230) klingt sanfter, bürgerlicher, vers?hnender aus. Zwar stehen auch hier Gewalttat und Schande am Anfang. Aber das Lied endet heiter mit einer vierfachen Hochzeit und hellen Blicken in eine rosenrote Zukunft, da kein Ha? und kein Kampf mehr sein wird.
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Der Minnesang war von Vaganten und fahrenden S?ngern gepflegt und in Volksliedern von Mund zu Mund gegangen, ehe sich, unter dem romanischen Einflu? der Troubadoure, die deutschen Dichter seiner annahmen und die Frau als Geliebte und Gattin auf einen goldenen Thron setzten, wie man ihn auf mittelalterlichen Miniaturen der Madonna mit dem Jesuskinde weihte. Von ?sterreich nahm der Minnesang seinen Anfang. Der von Kürenberg sang um 1150 das Lied vom Falken, den er sich mehr denn ein Jahr gez?hmt und der ihm dann ?in anderiu lant? entflog. Ein Spielmann, genannt der Spervogel (+?1180), dichtete die ersten lehrhaften Sprüche und Fabeln, z.?B. vom Wolf, der in ein Kloster ging und ein geistlich Leben führen wollte. Im Kloster vertraute man ihm das Hüten der Schafe an. Die Nutzanwendung braucht man einem Menschen heutiger Zeit nicht besonders nahe zu legen. Derartige W?lfe -- und derartige Schafe sind leider heute verbreiteter denn je.
Von 1160-1230 ritt Herr Walter von der Vogelweide durch die Welt. Er kam von Tirol, dort, wo die Berge das Eisacktal vom Himmel abschlie?en, wo man den Himmel in der eigenen Brust suchen mu?. Er trieb seinen mageren, schlecht gen?hrten Klepper durchs Burgtor von Wien, und die Ritter neigten sich vor ihm. Im Bischofssitz von Passau erklang sein Gel?chter, das er dem Bischof wie eine Handvoll Haselnüsse an den tonsurierten Kopf warf. Dem heiligen Vater in Rom war er aus deutschem Herzen feindlich gesinnt: er sah, politischer Denker der er war, da? die P?pste sehr diesseitige r?mische Politik und Diplomatie trieben, der die deutschen Kaiser sich selten genug gewachsen zeigten. Er stand auf der Wartburg und sah hinab auf das thüringische und deutsche Land. Wie blühte der Frühling, wie sangen die Amseln! Unter einem Wacholderstrauch lagen zwei Liebende. Unter der Linde stand ein fahrender Geiger und geigte zum Tanz. Ein sch?nes Fr?ulein l?chelte seitw?rts, selbstvergessen. Da l?chelte Walter von der Vogelweide. Er bückte sich und wand in Eile mit geschickten Fingern einen Kranz aus Butterblumen, die zwischen den Steinritzen auf dem Burghofe blühten, nahm den Kranz, sprang zu dem err?tenden M?dchen, verneigte sich und sprach:
Nehmt, Fraue, diesen Kranz, So zieret ihr den Tanz Mit sch?nen Blumen, die am Haupt ihr tragt.
Und der alte Geiger, mit dem Totenkopf zum Tanz taktierend, strich den Bogen. Tod spielte zum Leben auf. Der Ritter tanzte mit dem Fr?ulein. Sie hie? Maria wie die Mutter Gottes selber und war ihm Gottesmutter, Gottesschwester, Gottestochter all in eins.
Mit Friedrich dem Zweiten ritt Walter von der Vogelweide 1227 auf den Kreuzzug. Er ha?te die Pfaffen und den falschen Gott in Rom. Er wollte den wahren Gott von Angesicht zu Angesicht sehen. Er sang den Kreuzfahrern das Kreuzlied. Und am heiligen Grab sank er ins Knie: Jetzt erst bin ich beseligt, da mein sündig Auge die heilige Erde betrachten darf.
Dahin kam ich, wo den Pfad Gott als Mensch betreten hat.
Ernst und wie von einer Wolke beschattet, kehrte er aus dem heiligen Lande heim. Es war Frühling in ihm gewesen, als er auszog. Pal?stina war sein Sommer geworden. Nun sah er Herbst und Verwesung, Elend und Bitternis überall. Die Nebelkr?hen hingen in Schw?rmen über dem deutschen Land. Und in Würzburg war es, wo er, den Blick auf den flie?enden Main gerichtet, sein letztes Gebet dichtete: jene sch?nste Elegie deutscher Sprache: Owê war sint verswunden alliu miniu jar! Im Lorenzgarten, vor der Pforte des neuen Münsters, wurde das Sterbliche von Walter von der Vogelweide 1230 bestattet. Die letzte Zeit vor seinem Tode hielt er sich von den Menschen fern: er stand stundenlang am Main und fütterte die V?gel und die Fische mit Brotkrumen. Und in seinem Testament bestimmte er, da? aus seiner Hinterlassenschaft mehrere S?cke K?rner zu kaufen seien und da? auf seinem Grabe die V?gel stets K?rner und Wasser vorfinden sollten.
Noch im Tode wollte er seinem Namen Ehre machen: sein Grab noch sollte den V?geln eine Weide sein. Lest seine Liebeslieder, ihr Liebenden! Klausner Schwermut, weise uns die Kapelle seiner Melancholie! Wo im kahlen Winter ein frierender Vogel hungrig an eure Fensterscheiben pickt: gebt ihm zu fressen, gedenkt des Herren von der Vogelweide! Solange die deutsche Dichtung besteht, wird sein Name unvergessen sein. Her Walther von der
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