Der niegeküßte Mund | Page 2

Jakob Wasserman
und unerschrockenen Entdeckern. Es
gab glänzende Künstler, Propheten, falsche Herzöge, aufopfernde
Bürger, heroische Weiber, Vaterlandshelden und märchenhafte Städte.
Und solchem Reichtum gegenüber, der unerschöpflich vor ihm lag, der
seine Sinne entzündete, seinen Geist bewegte, seine Träume mit
unvergleichlichen Gestalten bevölkerte, sollte ihm der matte Tag noch
etwas bedeuten? Er ahnte das Schicksal, das seine Hand von
Jahrtausend zu Jahrtausend spannt, das die Kleinen vernichtet, um die
Großen zu erhalten; das ganze Länder verbrennt, um die Asche zum
Mörtel für das Häuschen eines Heilands zu verwenden, das jedes
Ereignis menschlichem Maß entrückt, jeden Zufall zur Bestimmung
wandelt. Deshalb hatte sich unter seinem rötlichen, buschigen
Schnurrbart jenes Lächeln eingenistet, das ebenso kindlich war, wie es
für weise gelten konnte. Deshalb hatte er kein Verständnis für die
kleine Spottsucht des Doktor Maspero und keine Teilnahme für den
Kummer der Frau Süßmilch, deren Töchterchen dem ABC feindlich
gegenüber stand. Der Herr Adjutant (man nannte ihn so, obwohl
niemand sich erinnern konnte, ihn jemals in einer Uniform gesehen zu
haben) sagte, der Unruh zähle seine fünfunddreißig Jahre doppelt. Und
da er es zu Frau Federlein sagte, welche die Frau des Nachtwächters
war, erfuhren es alle Leute, die in der Abgeschlossenheit des Lehrers
etwas Verdächtiges und Geheimnisvolles sahen.
Zweites Kapitel

Wie heute hatte Doktor Maspero fast täglich einen Begleiter, der die
nächtliche Heimkehr vom Wirtshaus verkürzte. Er plauderte in seiner
finster-spöttischen Manier mit dem Baron, der die Apotheke besaß. Es
gab manchmal ausgedehnte und tiefsinnige Gespräche in der Nacht,
wenn das Kartenspiel beendet war. Der Doktor war ein Mann, klein wie
ein Zwerg, hager wie ein Knabe, hatte auch die Bewegungen eines
Knaben, sprach überlaut und meist grimmig, auch wenn er witzig war.
Sein bärbeißiges Wesen glich einer Schutzwaffe gegen die länger
gewachsenen Menschen.
Lispelnd und visionär erzählte der Baron von seinem neuen Provisor.
Das Lispelnde und Visionäre war ihm stets eigen. Seine Art erinnerte
an frische Butter, so reinlich, mild und appetitlich war er. Er war den
schönen Künsten ergeben und verdankte dieser Neigung das
Zerflossene und Selbstgefällige seiner Natur. Immer ging er durch die
Straßen wie jemand, der sagen will: Seht, welch ein Träumer bin ich.
Der Doktor drückte seine Verwunderung aus, daß er den neuen
Provisor, der doch schon vier Wochen hier sei, noch nicht gesehen habe,
und fragte nach dem Namen.
»Apollonius Siebengeist,« erwiderte der Baron, und seine Blicke waren
verloren ins schwarze Firmament gerichtet.
»Einstampfen lassen! Einstampfen lassen! So heißt man nicht,«
kreischte der Doktor mit unbegründeter Wut und lauschte auf den
Beifall seines Freundes empor, der ihn um zwei Kopflängen überragte.
Auch er war nicht ohne Beziehung zum geistigen Leben der Nation.
Sein ungestümer Witz war eine Frucht der Bildung. Sein Ideal unter
den Bücherschreibern war jener Saphir, der einst nach des Doktors
Ansicht die Welt aus ihren Fugen gerüttelt.
Der Baron entgegnete langsam und bedeutungsvoll, daß Siebengeist
aus einer guten Familie sei, jedoch sei sein Gehirn nicht in gehöriger
Ordnung. Er habe etwas Koboldartiges an sich, etwas
Sozialdemokratisches. Darauf antwortete der Doktor, indem er mit
zwei Fingern seine Nasenspitze kniff, der Apotheker möge ihm doch
ein Pülverchen zur Beruhigung zubereiten, eine staatserhaltende

Mixtur.
»Rizinusöl!« platzte der Baron heraus und brach über diesen
unerwarteten Geistesblitz in solch brüllendes Hoho-Gelächter aus, daß
der Nachtwächter Federlein an der Marktecke erschrocken stehen blieb.
Geringschätzig verzog der Doktor den Mund, während der sanfte
Apotheker noch lange nicht zur Ruhe kommen konnte. Und während
sie ihren Weg durch die außerordentlich stille Nacht fortsetzten, sprach
man noch von den Theatervorstellungen, welche für die nächsten Tage
angekündigt waren, denn eine Wandertruppe wollte im fränkischen Hof
ihr Lager aufschlagen. Der Doktor war vom Redakteur des Tageblatts
als Kritiker gewonnen worden, und der Baron hatte die Absicht, dem
Direktor ein Vorspiel in Versen zu schreiben.
Beim Schulhaus winkte der Doktor leutselig zum dunkeln Fenster
hinauf, aus dem der Lehrer auf die Straße sah. Die Glocke schlug eben
elf Uhr. Der Doktor fragte empor, ob Philipp Unruh morgen zur
Auktion kommen werde. »Es soll auch Bücher geben,« fügte er mit
überlegenem Spott hinzu. Die beiden Männer wünschten gute Nacht
und waren bald in der Finsternis verschwunden.
Der Lehrer wußte, daß es Bücher bei der Versteigerung geben würde.
Der jüdische Kantor war gestorben, ohne Angehörige zu hinterlassen,
und dessen Habseligkeiten kamen unter den Hammer. Insbesondere
wußte Unruh um eine alte Ansbacher Chronik, die der Kantor nie hatte
verkaufen noch verleihen wollen. Daran erinnert, freute er sich jetzt,
vergaß die trüben Gedanken, die ihn beherrscht, musterte lächelnd den
schwarzen Vorbau der Synagoge, schaute straßauf, straßunter,
ruhegewohnt, friedesicher und achtete der Kälte nicht. Schnee fiel,
flaumig anzusehen, aufglitzernd im Licht einer einzigen Laterne. Indes,
jene allzuschnell vertriebenen Gedanken kehrten zurück.
Er hatte etwas Seltsames gelesen. Unlängst war er bei seinem Schwager,
einem Schwestermann in Teilheim, gewesen. Das ist ein Örtchen in der
Nähe Hesselbergs und mitten im sogenannten Hahnenkamm. Der
Freund besaß eine Krämerei, und
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