ihr so 
weiter lebt, so arm, so halb.« 
Bei solchen Worten liebten ihn die jungen Herzen noch mehr als sonst. 
* * * * * 
Es konnte ihm aber nicht entgehen, daß er in Oberlin einen gewonnen 
hatte, der ihm wesentlicher anhing und beharrlicher folgte als je einer 
zuvor. Den hatte er aus dem Innersten entfaltet und in die Flamme 
hineingetrieben, wo er nun mit Adorantenhänden stand. Es bewegte ihn 
sehr. Er hätte nicht kühner begehren können, als es nun die 
Wirklichkeit schenkte. 
Manchmal schaute er in das erschlossene Jünglingsgesicht und dachte 
froh: ein Schüler! Was lag da nicht drin an Gewähr, an 
Unvergänglichem! So konnte es also sein! Manchmal auch erschrak er: 
bin ich dem gewachsen? Da war kein Einschränken und Sträuben; der 
volle Akkord aus der Tiefe, glockenklar. 
Zarteste Obliegenheiten erwuchsen daraus. Selbstprüfung, 
Selbstbewachung; ein Führen wie an seidenen Fäden. Er wurde 
gespannter, elastischer, beredter. Im Maße wie es ihn ergriff, erfuhr er 
die hundertmal erfahrene Angst von neuem: Angst vor Verlust, vor der 
Brüchigkeit, vor der Zeit und dem räuberischen Geschick. Auch dieser 
Ikarus wird mir in den Abgrund stürzen, sagte er sich. 
Indessen wurden die andern Knaben, namentlich die in der 
Kameradschaft, ungeduldig. Die Bevorzugung des hübschen, aber nach 
dem allgemeinen Urteil etwas simplen Oberlin verärgerte viele. Es 
hatte stets Begünstigte gegeben, doch so weit war es nie gediehen. 
Während aber die Unzufriedenheit in den meisten nur still gärte, auch 
durch ein Wort oder Lächeln von der Leyens leicht zu beschwichtigen 
war, übte Kurt Fink hämische Kritik. Dabei blieb es nicht; er 
verbündete sich mit dem Präfekten Rottmann, und das Einverständnis 
gewann herausfordernden Charakter; denn zwischen Rottmann und von 
der Leyen bestand eine ernstliche Verstimmung. In einer Frage von 
prinzipieller Wichtigkeit hatte der Präfekt dem Schulleiter Widerpart
geleistet und im Verlauf einer scharfen Auseinandersetzung sogar mit 
der Öffentlichkeit gedroht. 
Von der Leyen hatte die Verfügung erlassen, die gemeinsamen 
Leibesübungen sollten völlig nackt, auch ohne die übliche Lendenhose 
vorgenommen werden. Er nannte dies Kleidungsstück unzüchtig und 
sagte, es versetze in den Zustand des Ausgezogenseins, nicht des 
Nacktseins. Die Knaben waren auf Doktor von der Leyens Seite und 
erklärten sich bei der Schulversammlung einhellig für ihn; danach aber 
hatte Rottmann eine Gegenpartei zu bilden vermocht, die er heimlich 
aufwiegelte. Er pochte auf seine Verwandtschaft mit einem der 
Geldgeber der Anstalt, war aber dabei ein armer Teufel, aus welchem 
Grund sich auch von der Leyen nicht entschließen konnte, ihn brotlos 
zu machen. 
»Hört mal, Kinder, so geht das nicht weiter«, polterte eines Abends 
Justus Richter. »Rottmann schleicht im Schlafsaal herum, wenn man 
müde ist, spioniert und stänkert. Ich erlaube nicht, daß hier gestänkert 
wird. Hier hat gute Luft zu sein, basta. Was hat er denn von dir gewollt, 
Oberlin, als er dich beiseite nahm?« 
Dietrich antwortete: »Ich habe ihn nicht verstanden. Er tat so 
geheimnisvoll. Er sagte, Lucian beginge Unrecht an sich und an uns. 
Seine ideale Absicht wäre nicht zu bezweifeln, aber er wäre sich nicht 
klar darüber, daß er widernatürliche Triebe in uns wecke.« 
Richter, der schon im Bett lag, schnellte auf. »O das Schwein!« rief er. 
»Hier gelob ichs, wenn er wieder das Lokal betritt, werf ich ihn die 
Treppe hinunter. Was für ein schmutziges Schwein. Und was hast du 
ihm erwidert?« 
»Ja, ich wußte nicht,« sagte Dietrich zögernd, »ich wußte garnicht, was 
er meinte. Was sind denn das: widernatürliche Triebe?« 
Herzliches Gelächter folgte der Frage. Eine Weile noch wurde Dietrich 
geneckt, dann drehte der Zimmerälteste das Licht ab. Mehrere 
schimpften, aber zehn Minuten darauf war rhythmisch durchatmete 
Ruhe. Dietrich allein konnte lange keinen Schlaf finden. Mitten in der
Nacht erhob er sich. Mattes Licht klebte an den Scheiben; er sah die 
schlummernden Gesichter der Kameraden, einige glatt und heiter, 
einige wie im Schmerz verzogen; ein Seufzen von irgendwo, ein 
geflüsterter Laut wieder; draußen rauschten Bäume, es war so schwül, 
so eigen; auf den Zehen schlich er zum Fenster, öffnete es und beugte 
sich hinaus, weit, durstig, beklommen, träumend halb, die Welt war 
wie ein Wurm, der im Kriechen müd geworden ist und regungslos liegt, 
der Himmel oben wie eine zugemachte Tür. »Was tust du, Oberlin?« 
fragte eine leise Stimme. 
Dietrich kehrte sich betroffen um. Es war Georg Mathys, der mit aufs 
Kissen gestütztem Arm ihn still forschend betrachtete. 
Des Morgens um sieben Uhr war Wettlauf in der großen Längshalle 
angesagt. Als im goldigen Frühlicht die sechzehn-, siebzehn-, 
neunzehnjährigen nackten Leiber sich geschmeidig durcheinander 
bewegten, hatten sie mit den Kleidern das eitel Unterschiedene 
abgestreift und waren sorglos spielende Fische geworden. Oberlin, von 
jähem Mutwillensrausch erfaßt, führte einen Tanz aus, glitt von einem 
Knaben zum andern und verübte Schabernack, entschlüpfte gewandt, 
wenn sie ihn packen wollten, kletterte schließlich waghalsig auf einen 
der Tragbalken, riß einen Glycinienzweig ab und flocht sich ihn um die 
Stirn. Seht, Oberlin ist nicht bei Verstand, hieß es; aber seine 
Ausgelassenheit war ansteckend. 
Die Gruppen    
    
		
	
	
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