sich zu fügen, war ihm selbstverständlich. Er hatte 
nie eine abirrende Neigung in sich verspürt. Vor ihm lag geebnete Bahn. 
Sein eigenes Treiben beschäftigte ihn nur im Hinblick auf das 
erreichbare Ziel. Er gab sich unfragend dem hin, er war sich ohne 
Gewicht fast. Er kannte keine Verdunkelung, keine Zweifel. Gehorsam 
war bequem, da er Hindernisse aus dem Weg räumte. 
Zu Ende des Winters, in dem er siebzehn Jahre alt geworden war, 
erkrankte sein Vater. Schon Monate vorher hatte ihn die Spannkraft 
verlassen. Er zog sich von den Geschäften zurück, legte Ämter und 
Ehrenstellen nieder, wollte seine Freunde nicht sehen, hatte den 
Glauben an sich, an die Zukunft, an die Nation verloren, und wurde die
Beute einer unabwendbar einsickernden Schwermut, die den 
körperlichen Verfall beschleunigte. Kaum, daß er begraben war, fiel 
auch Dietrich in schwere Krankheit, von der er sich erst mit Anbruch 
des Frühlings zu erholen begann. 
Der Arzt riet, ihn aufs Land zu schicken, und zwar für lange. Damit der 
Studiengang nicht geschädigt würde, erachtete er es für zweckmäßig, 
wenn er in einer Waldschule Unterkunft fände. Nach mancherlei 
Umfragen wollte sich die Ratsherrin für die Schulgemeinde Hochlinden 
entscheiden, die sich durch ihre landschaftliche Lage in einem Tal des 
südlichen Schwarzwaldes empfahl; aber gutmeinende Bekannte 
warnten vor den extrem modernen Ideen, die dort im Schwange seien, 
und hauptsächlich vor dem Leiter der Anstalt, Doktor von der Leyen, 
der in pädagogischen Fragen als gefährlicher Fortschrittler galt. 
Zufällig war Georg Mathys auf Ferienbesuch bei seinen Eltern. Er war 
seit einem Jahr Zögling in Hochlinden. Die Mathys, weltberühmte 
Seidenweber, im Besitz des Privilegs seit 1560, waren als Familie 
ebenbürtig. Nach ihrer Meinung sich zu richten, ihren Rat zu befolgen, 
lag nahe und war klug. Die Auskunft beseitigte jedes Bedenken. Georg 
selbst schilderte ihr das Leben in der Schulgemeinde ruhig und 
anschaulich. Er urteilte nicht, schwärmte nicht, das sagte ihr zu. Daß er 
gewillt war, sich Dietrichs anzunehmen, war ein Grund mehr für die 
Wahl von Hochlinden. Er war um zwei Jahre älter als Dietrich, machte 
aber den Eindruck eines gereiften Charakters. Er war schlank, groß, 
hatte etwas Sanftes im Wesen und sehr schöne Augen mit langen 
Wimpern. 
* * * * * 
Es war leicht, sich in Hochlinden einzuleben. Unbefangenes 
Entgegenkommen streifte dem Schüchternsten die Fessel ab. Die 
Freiheit der Gebärde verwunderte Dietrich mehr als die des Wortes. Er 
mußte jedesmal eine Hemmung überwinden, bevor er gelockert und 
gleichgestimmt war. 
Dies spiegelte sich in seinem Gesicht. Es war ein Gesicht ohne die 
schlauen und ängstlichen Verstecktheiten, wie es viele Siebzehnjährige
haben. Es war zu allen Tageszeiten von derselben Frische. Man konnte 
ihn aus dem Schlaf rütteln, und die Frische leuchtete. Der Kopf war 
klein, der Körper von zartem Bau. Geradezu auffallend war die 
Kleinheit und Feinheit seiner Hände. Man hielt ihn anfangs für 
verweichlicht, aber er war ein vorzüglicher Turner und Schwimmer, 
und im Ringkampf war ihm nur Kurt Fink überlegen, der Berliner. 
Damit setzte er sich in Respekt. 
Georg Mathys gab ihm freundschaftliche Unterweisung, wie er sich in 
bestimmten Fällen zu verhalten habe. Er war mit Dietrich in der 
Kameradschaft Doktor von der Leyens. Es fiel Dietrich äußerst schwer, 
sich an das Du zu gewöhnen, mit dem er wie alle diesen Mann anreden 
sollte. Von der Leyen war es darum zu tun, die Fremdheitsschranke 
niederzureißen, die aus dem Lehrer einen Popanz, aus dem Schüler ein 
unbeseeltes Instrument machte. Das Mittel der vertraulichen Anrede 
war zweischneidig, er verhehlte es sich nicht, aber er wog keine Gefahr, 
wenn es ihm darum zu tun war, sich zu bewähren. Er wog nicht einmal 
die Enttäuschung. Nicht auf Disziplin kam es ihm an, die er in den 
Händen der Pedanten und Moralisten zu einem Erwürgungsapparat 
hatte werden sehen, sondern auf den freien Entschluß des Einzelnen, 
sich der Erkenntnis eines Führers zu beugen, der zugleich Liebender 
war. Er glaubte an die Möglichkeit der Verwandlung in jungen 
Menschen, und von diesem Glauben erfüllt, nahm er nur an, was ihn 
befestigte. 
Zwang und Vorschrift wirkten nicht als solche. Jeder sollte zu der 
anspornenden Meinung gebracht werden, als bestimme er selbst das 
Ausmaß seiner Pflichten. Ein überlegener Geist handelte nach 
wohldurchdachtem Plan, dem sich die untergeordneten Organe willig 
fügten. 
Das Erstaunen Dietrichs bei den Äußerungen von der Leyens wuchs 
von Tag zu Tag. Der Gegensatz zu dem, was er bisher für erlaubt und 
erstrebenswert gehalten, war so grell, daß er sich in eine Region 
versetzt wähnte, von der gewohnten so verschieden wie Feuer von 
Wasser. Er schaute um sich, er besann sich; es war noch die Welt, und 
es war nicht mehr die Welt. Die weit hinaus geebnete Bahn
verschwamm im Ungewissen. 
Wenige können sich verwandeln. Verwandlung erschüttert das Herz. 
* * * * * 
An einem jener Diskussionsabende, die zu den Einrichtungen in 
Hochlinden gehörten, hielt Doktor von der Leyen eine Rede, worin er 
mit der Unwiderstehlichkeit und polemischen Kraft seiner 
Beweisführung    
    
		
	
	
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