auf 
ihrer sogenannten bürgerlichen Ehre dulden, finden sich viele 
Beispiele.« 
=Dr.= Zeunemann hob Ruhe gebietend seine Hand. 
»Eine verbrecherische Handlung wird dem Angeklagten zunächst noch 
gar nicht zugemutet,« sagte er. »Wenn er seine geschiedene Frau um 
Geld anging, so war das höchstens taktlos, und es ist um so weniger 
auffallend, als wir aus vielen Zeugnissen wissen, daß er diese 
Hilfsquelle öfters in Betracht zog. Halten Sie,« wendete er sich an den 
Hofrat, »die Schuld für ein Motiv, das stark genug gewesen wäre, den 
Angeklagten zu veranlassen, sich auf irgendeine ungewöhnliche oder 
bedenkliche, etwa sogar verbrecherische Weise in den Besitz von Geld 
zu setzen?« 
»Ich muß sehr bitten,« wehrte der Hofrat ab, »mir die Antwort zu 
erlassen. Ich schrecke um so mehr davor zurück, ein Urteil darüber zu 
äußern, als ich nicht in der Lage war, mir eines zu bilden. Ich bin mit 
der Psyche Derugas nicht vertraut, könnte mich nur in Phantasien 
ergehen, aber selbstverständlich bin ich eher geneigt, Gutes als 
Schlechtes von einem Kollegen zu denken.« 
»Sie waren,« fuhr der Vorsitzende fort, »derjenige Kollege, dem der 
Angeklagte am 1. Oktober zwischen sechs und sieben Uhr in der Nähe 
des Bahnhofs begegnete, und der ihn fragte, ob er in den ärztlichen 
Verein wolle?« 
»Jawohl,« sagte der Hofrat. »Ich stellte die Frage, weil ich mich nach 
dem, was kürzlich vorgefallen war, kollegial zu ihm verhalten wollte. 
Seine Antwort, er wolle verreisen, erregte mir keinerlei Zweifel, da wir 
ja in der Nähe des Bahnhofs waren und Deruga ein Paket trug.
Dasselbe fiel mir auf, weil es größer war, als Herren unserer 
Gesellschaftskreise solche zu tragen pflegen.« 
Der Vorsitzende wandte sich an Deruga mit der Frage, ob er zugebe, 
ein Paket getragen zu haben, und was darin gewesen sei. 
»Ich erlaubte mir allerdings,« sagte Deruga, »als ein armer Teufel, der 
sich nicht erdreistet, zu den Gesellschaftskreisen des Herrn von 
Mäulchen gehören zu wollen, ein Paket zu tragen. Darin wird Wäsche 
und dergleichen gewesen sein, was man für die Nacht braucht.« 
Der Staatsanwalt schnellte von seinem Sitz auf und bat, daß festgestellt 
werde, ob Deruga, als er am 3. Oktober in seine Wohnung zurückkehrte, 
ein Paket bei sich gehabt habe. 
»Die Haushälterin wird gleich vernommen werden,« sagte der 
Vorsitzende. »Der Angeklagte antwortete Ihnen, Herr Hofrat, er wolle 
verreisen, und Sie begleiteten ihn bis zum Bahnhof. Können Sie sonst 
etwas Sachdienliches mitteilen?« 
»Nein, durchaus nicht,« beteuerte der Hofrat. »Gerüchte und 
Schwätzereien zu wiederholen werden Sie mir erlassen, da dergleichen 
ja mehr oder weniger über jeden Menschen in Umlauf ist und in ernsten 
Fällen nicht in Betracht gezogen werden sollte.« 
»Vielleicht könnten Sie doch sagen,« fragte der Vorsitzende, »was für 
einen Ruf =Dr.= Deruga im allgemeinen unter seinen Kollegen 
genoß?« 
»Ich glaube nicht, daß meine diesbezüglichen Mitteilungen einen 
namhaften Wert für Sie hätten,« entschuldigte sich der Hofrat. »Aus 
dem, was ich erzählt habe, läßt sich ja schon mancherlei schließen. Den 
sicheren Boden der Tatsachen möchte ich nicht verlassen.« 
* * * * * 
Weinhändler Verzielli, der nächste Zeuge, war ein untersetzter, 
dunkelfarbiger Mann, der den Eid in strammer Haltung, die Augen fest
auf den Präsidenten gerichtet, die linke Hand auf das Herz gelegt, mit 
lauter Stimme und leidenschaftlichem Ausdruck leistete. 
»Sie sind mit dem Angeklagten bekannt, aber nicht verwandt?« fragte 
=Dr.= Zeunemann. 
»Befreundet, sehr befreundet,« sagte Verzielli eifrig. 
»Aber nicht verwandt?« wiederholte =Dr.= Zeunemann. 
»Leider nicht,« sagte Verzielli, »aber sehr befreundet. Ich liebe und 
bewundere ihn.« 
»Sie fühlten sich ihm zu Dank verpflichtet,« sagte der Vorsitzende 
freundlich, »weil er durch einen guten Rat und auch durch eine 
Geldsumme, die er Ihnen vorschoß, Ihr Glück begründet hatte?« 
»Ach, Rat und Kapital, das ist nicht die Hauptsache,« rief Verzielli aus. 
»Er hat mir den Glauben an die Menschheit wiedergegeben. Er ist edel 
und hilfsbereit.« 
»Sie konnten ihm das Geliehene bald zurückgeben,« fuhr der 
Vorsitzende fort, »und haben ihm seitdem Ihrerseits zuweilen Geld 
geborgt?« 
»Das ist ja gar nicht der Rede wert,« sagte Verzielli, Kopf und Hand 
schüttelnd, »wo ich ihm meine ganze Existenz verdanke. Übrigens hat 
er mich nie um Geld gebeten, ich habe es ihm aufgedrängt. Er verstand 
ja nicht mit Geld umzugehen, er war zu gut und zu edel dazu.« 
»Hat er Ihnen jemals Geld zurückgezahlt?« 
»O ja,« rief Verzielli stolz, »auch in bezug auf das Rückständige fragte 
er mich öfters, ob ich es brauche. Aber wozu hätte ich es brauchen 
sollen? Es war ja ebenso sicher bei ihm wie auf der Bank. Ich sagte ihm 
immer, es sei noch Zeit, wenn er es einmal meinen Kindern wiedergäbe. 
Meine Frau war auch der Meinung, man dürfe ihn nicht drängen.« 
»Hat der Angeklagte Sie zuweilen mit Hinblick auf etwaige
Schenkungen oder eine etwaige Erbschaft von seiten seiner 
geschiedenen Frau vertröstet?« 
»Zu vertrösten brauchte er mich nicht,« sagte Verzielli ein wenig 
gereizt. »Aber natürlich hat er zuweilen von seiner geschiedenen Frau 
und seinem verstorbenen Kinde gesprochen. Er hat das arme Kind    
    
		
	
	
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