An Deutschlands Jugend | Page 2

Walther Rathenau

und zittert, und weint Tränen, die nach innen fließen und das Herz
verbrennen. Auch dafür nicht, daß ihr ungebrochen und stark, voll
Anspruch und ohne Zweifel seid, huldige ich euch. In zwanzig Jahren
sind eure Verwegensten alt, enttäuscht und philisterhaft, nicht um des
Großen, sondern um des Kleinen willen, und es wird viel sein, wenn
abermals dereinst einige aufstehen, weil sie ihr Herz warm erhalten
haben, um zaghaft und überwältigt zu euren Kindern zu reden. Um des
Glaubens willen an unsere deutsche Erde rede ich zu euch, um der
Liebe willen zu euren Vätern, euren Kindern und am meisten zu euch,
um der Hoffnung willen, die ihr seid und alle, die nach euch kommen.
Denn ihr werdet das Reich betreten, das uns verwehrt ist, auf euch liegt
die Verantwortung und die erste Entscheidung.
Werdet ihr mich hören? Manche von euch, die ursprünglichsten, sind

sorglos, dem Denken abgewendet, mit billigem zufrieden und eng
autoritär; manche, die klügsten, sitzen in ihren Schreibstuben und
Preßzentralen, pochen auf ihre Vernunft und Abstraktion und warten,
daß ihrer geschulten Dialektik zuliebe die Welt sich wie Sankt
Hieronymus' Löwentier aufblickend zu ihren Füßen schmiege.
Verschließt ihr euch aber vor mir, so rede ich zu mir selbst und meinem
Schöpfer, denn reden muß ich und darf nichts verschweigen, obwohl
ich weiß, daß jedes Wort mir neuen Unfrieden schafft bei denen, die
mich hassen und verfolgen. Dann werden andere kommen, helleren
Geistes, reineren Herzens, edlerer Art, die Glauben erzwingen für das,
was sie verkünden und was ich nur stammle. Denn das ist freilich wahr:
Nichts ist in mir, das den Willen rechtfertigt, gehört zu werden, außer
dem Glauben an die Seele und ihre Verwirklichung.
In mir aber ist nichts verwirklicht, und will ich zu euch reden von
unseren gemeinsamen Schwächen, Trübheiten und Klärungen, so muß
ich frei vor euch mich zu der Problematik bekennen, die man mir
vorwirft, damit ihr ungetäuscht so hart und milde wie ihr wollt urteilt,
und muß euch sagen, wer ich bin.
Ich bin ein Deutscher jüdischen Stammes. Mein Volk ist das deutsche
Volk, meine Heimat ist das deutsche Land, mein Glaube der deutsche
Glaube, der über den Bekenntnissen steht. Doch hat die Natur, in
lächelndem Eigensinn und herrischer Güte die beiden Quellen meines
alten Blutes zu schäumendem Widerstreit gemischt: den Drang zum
Wirklichen, den Hang zum Geistigen. Die Jugend verging in Zweifel
und Kampf, denn ich war mir des Widersinns der Gaben bewußt. Das
Handeln war fruchtlos und das Denken irrig, und oftmals wünschte ich,
der Wagen möchte zerschellen, wenn die feindlichen Gäule
auseinanderstürmend sich ins Gebiß legten und die Arme erlahmten.
Das Alter sänftigt. Noch immer ist der überschüssige Wille nicht ganz
gebrochen, noch immer stehe ich im praktischen Handeln, doch nicht
um eigener Ziele willen. Und manchmal scheint es mir, als sei aus
diesem Handeln auch etwas in meinem Denken befruchtet worden, als
habe die Natur mit mir den Versuch vorgehabt, wie weit betrachtendes
und wollendes Leben sich durchdringen können. Ein Zeichen des

Friedens wurde mir gegeben. Als ich zum ersten- und zum letztenmal,
nicht freiwillig, sondern von Not gezwungen, mich den Getrieben des
Staates näherte, da wurde durch das geringe Werkzeug meines Kopfes
und meiner Hände vom deutschen Willen aus einem Gusse eines
vollbracht, das sonst nicht im Schaffen eines Einzelnen beschlossen ist:
die bewußte Schöpfung einer neuen Wirtschaftsordnung, die nicht
vergehen kann und alle künftigen Wirtschaftsformen in ihrem Schoße
trägt. Das war wohl die sichtbare Frucht, die der alternde Stamm nach
auferlegtem Willen tragen durfte; nun schüttet er die verspäteten
Knospen und Blätter in euren Schoß.
Grund meines Redens ist nicht der Krieg, sondern der geistige
Niederbruch, den er offenbart, nicht die Furchtbarkeit dessen, was ist,
sondern dessen, was war und was bevorsteht. Die Stumpfesten glauben
ein Gewitter zu sehen, kurz und heftig meinten sie zuerst, heftig und
absehbar meinen sie jetzt, und denken bald wieder da anzufangen, wo
sie aufgehört haben, am liebsten möchten sie ihn als Mittel betrachten,
um einige ihrer alten Zwecke zu erreichen.
Andere trösten sich mit einer Theorie wirtschaftlicher Evolutionen:
immer haben Kriege die Übergänge der Wirtschaftsformen begleitet,
dieser ist größer, doch nichts anderes; wir werden den Endzustand
erwarten und versuchen, ihn nach unserem Willen zu lenken. Sie haben
nur zur Hälfte Unrecht, denn dieser ist wahrhaft der Weltbrand des
europäischen Sozialgebäudes, das nie wieder erstehen wird. Doch ist
nicht jede Brandstätte ein Baugrund, manche ist wüst geblieben und
manche zur Spukstätte für Gespenster und Gesindel geworden.
Die wenigen, die das Ereignis kommen sahen, so wie es ist, nicht als
mannhaften Zweikampf, nicht als frisch-fröhlichen Reiterkrieg,
sondern als Weltgericht: diese wenigen haben es verkündet, nicht als
politisch-wirtschaftliche, sondern als sittliche Notwendigkeit, als
Blutgericht, um zum letztenmal die Seele und das Gewissen, die Würde
und Gerechtigkeit der westlichen Welt zu wecken und zu retten.
Wir gingen zugrunde mit aller Üppigkeit der Technik und mit dem
verruchten Stolze unseres
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