Stufen | Page 3

Christian Morgenstern
empfinde ich gegen die Zote. Weniger gegen die, welche etwa von Mann zu Mann kursiert, obschon ich auch sie vollst?ndig entbehren k?nnte, als gegen die ?ffentliche Zote von der Bühne herab. Wenn pl?tzlich Hunderte versammelter Menschen jede Scham voreinander verlieren und in wiehernder Freude über eine nicht mi?zuverstehende Andeutung übereinstimmen, dann sinkt mir der Mensch unter das Tier und ein schmerzlicher Unwille zieht mir das Herz zusammen.
Ich habe doch für vieles Leichtsinn und nicht zum mindesten für die Liebe jeglicher Art, aber vor der berechneten Zote vergeht mir aller übermut. Da schaue ich nur in einen Abgrund von Gemeinheit und H??lichkeit. Wir jungen M?nner, die wir etwas auf uns halten, sollten jenen Aufführungen beizuwohnen nicht als uns angemessen erachten und am wenigsten Weiber, die wir ehren, mit uns in jene niedrige und widerw?rtige Sph?re hinabziehen.
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Mein Skeptizismus ist vielleicht gerade das Charakteristische des philosophischen Dilettanten. Der philosophische Dilettant ist immer schnell am Ende aller Dinge, weil er nur die Ergebnisse der bereits gewonnenen Erkenntnis im Auge hat, ohne die Wege zu gehen, ja oft auch nur zu kennen, auf denen jene erreicht worden sind.
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Jedes Jahr habe ich mindestens Eine Periode fürchterlichsten Zweifels an mir selbst. Dann lebe ich mit best?ndigen Todesgedanken.

1897
Die Sehnsucht meines Lebens ist eine oft überm?chtige Sehnsucht nach praktischem Schaffen im Gro?en. Plastik w?re (und Architektur) mein h?chster Fall. Meine h?chste Liebe galt immer dem Gegenst?ndlichen, der Linie, der Farbe, dem Ton an sich. Schon er allein vermochte mich zu entzücken, wievielmehr erst seine organischen Verbindungen.
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Mein Hang zu philosophischem Nachdenken beruht auf der einfachen Grundlage, da? ich in jedem Augenblick über das kleinste Stück Natur irgendwelcher Art in h?chste Verwunderung geraten kann.
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Dieser Norden! Da wacht man in der verhei?endsten Stimmung auf. Griesgr?mig, grau, teilnahmslos ruhen die gro?en Augen der Fenster auf dir, als wollten sie sagen: wozu regst du dich so auf? was willst du mit deinen t?richten Idealen? Alles ist eitel.
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Ich verbrenne an meinem eigenen Ma?stab.
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Tr?ume
Die wilde Jagd.
Der Sch?cher am Kreuz.
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Mein Herz kommt mir heut vor wie ein Pfefferkuchenherz, das lange im Nassen gelegen hat.

1904
Es ist etwas in mir, das jagt und jagt einem Ziele zu. Das l??t mich in keiner Tr?gheit ganz ruhn, in keinem Glück ganz vergessen.

1905
Ich m?chte am liebsten auf einem Turm wohnen. T?glich im Leben drunten ein Bad nehmen, untertauchen, und dann wieder hinaufsteigen in sein Luginsland, sein au dessus de la vie.
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So oft ich unter neue Menschen gehe, so oft komme ich mit Wunden bedeckt von ihnen zurück. Es sind freilich nur leichte oberfl?chliche Schrammen, die bald wieder verheilen, aber sie haben, da sie entstanden, wie zehrendes Feuer gebrannt und besser vielleicht als eine tiefe Verwundung ihr Werk an meiner Seele getan.
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Ich kann ungekl?rte Verh?ltnisse einfach nicht ertragen. Warum k?nnen die Menschen nicht offen gegeneinander sein? Reine Luft zwischen uns!
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Ich mag die Ver?rgerten nicht leiden.
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Meine Natur hat sich von früh auf mit Apathie beholfen. Diese Langsamkeit zu reagieren, hat alles, was auf mich einbrach, auf eine breitere Fl?che verteilt, und was mir in einer Stunde unzweifelhaft den Atem abgeschnürt h?tte, wurde mir so in Tagen und Wochen zu einem dumpfen Druck, der mein Leben nicht eben zerst?rte, aber langsam und sicher ermattete.
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Und das Verha?teste von allem wird einst geschehen: Man wird mir 'Milderungsgründe zubilligen'. ('Er war ein guter Mensch, er wollte das Beste usw.')
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Was mu? ich auf die Menschen für einen Eindruck machen, da? sie mich so oft wie ein unmündiges Kind behandeln wollen.
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Ich trage keine Sch?tze in mir, ich habe nur die Kraft, vieles, was ich berühre, in etwas von Wert zu verwandeln. Ich habe keine Tiefe, als meinen unaufh?rlichen Trieb zur Tiefe.
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Mein n?chstes Buch soll 'Auferstehung' hei?en, wenn mir noch eine Auferstehung beschieden sein sollte, im gr??ten Sinne.
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Ich will gern alles gutzumachen suchen, was ich und andere mit mir schlecht gemacht haben, aber nur noch in mir, in mir selbst. Alles andere ist Sentimentalit?t und Pfuscherei.
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Ich hatte heute Nacht (24./25. II. 05) ca. 3/4 2 Uhr nach dem ersten Einschlafen wieder einen jener schon beschriebenen Gehirnzust?nde (etwa der achte in der Reihe), dessen Hauptmerkmal mir zu sein scheint, da? ich -- innerhalb des Traumzustandes -- aus einem unangenehmen Traum mit aller Willenskraft ins wache Bewu?tsein hinausstrebe. Es ist der Grenzzustand des Erwachens aus einem peinigenden oder doch beunruhigenden Traum das eigentliche Thema eines solchen Traumzustandes. So erinnere ich mich augenblicklich nicht mehr des Traumes im Traume selbst, sondern nur noch des Erwachenwollens, ja scheinbar wirklich Erwachtseins im Traume. Ich schien mich endlich mit
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