Shakespeare und die Bacon-Mythen | Page 2

Kuno Fischer
der Verfasser der nach Shakespeare
genannten weltberühmten Dichtungen nicht William Shakespeare,
sondern Francis Bacon sei, blickt heute auf eine fast vierzigjährige
litterarische Laufbahn zurück. Keine litterarische Controverse hat in der
zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ein breiteres Aufsehen erregt und
mehr Federn in Bewegung gesetzt, als diese Streitfrage, von der früher
wohl niemand geglaubt hätte, daß sie jemals ernstlich gestellt werden
könnte.
Freilich soll A. Gfrörer, damals Bibliothekar in Stuttgart, schon vor
mehr als fünfzig Jahren mündlich geäußert haben, daß nach einem
halben Jahrhundert von William Shakespeare die Rede sein werde, wie
in der neueren Geschichtsforschung von Wilhelm Tell. Indessen war
Gfrörer kein Prophet und ein Mann von äußerst wandelbaren
Meinungen. Aus einem sehr ungläubigen Protestanten, wie er damals
war, wurde er zehn Jahre später ein sehr fanatischer Katholik (1853).
Schon im Jahre 1884 hatte sich über die
Bacon-Shakespeare-Controverse eine solche Masse von Litteratur in
größeren und kleineren Schriften angehäuft, daß ihre Zahl auf 255
gestiegen war. Davon waren 161 amerikanischen, 69 englischen
Ursprungs; 117 hatten sich für die Autorschaft Shakespeares erklärt, 73
dawider. Im Jahre vorher (1883) waren allein 61 Schriften über die

Frage erschienen [Fußnote: Bibliography of the Bacon-Shakespeare
Controversy. By _W. H. Wyman_. Cincinnati, P. G. Thomson. 1884.]
Es ist kein uninteressantes, auch kein der Aufmerksamkeit der
Shakespeare-Freunde und -Forscher unwürdiges Thema, den Ursprung,
die Art der Entstehung und Fortpflanzung einer so seltsamen, so irrigen
und gegenwärtig so verbreiteten Vorstellungsweise näher ins Auge zu
fassen und auf ihren Grund, ihre Beweisarten und ihre Resultate zu
prüfen. Wie ist es gekommen, daß in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts, dieses Jahrhunderts der Kritik, wie man das unsrige mit
Recht genannt hat, mit einem Male die Idee von einem "Shakespeare-
Mysterium" auftaucht, daß man Bücher über den
"Shakespeare-Mythus" schreibt, welche beweisen wollen, daß der
Dichter William Shakespeare eine mythische Figur sei, die als "den
süßen Schwan vom Avon" Ben Jonson nur zum Schein besungen und
verherrlicht habe? In Wahrheit sei dieser William Shakespeare ein
Bauernjunge aus Warwickshire, ein roher und gemeiner
Fleischergeselle in Stratford gewesen, der nach einer Reihe thörichter
und schlechter Jugendstreiche, nach einer eiligen und unglücklichen
Heirath, nach Wilddiebereien und boshaften Pamphleten gezwungen
war, seine Vaterstadt zu verlassen; flüchtig, arm und verlumpt sei er
nach London gekommen, bei den Theatern an der Themse erst
Pferdejunge, dann Theaterdiener, Statist, Schauspieler, zuletzt
Theaterdirector oder Unternehmer geworden und habe als solcher die
Stücke anderer bearbeitet, in Scene gesetzt und aufgeführt. Als ein
kluger und betriebsamer Geschäftsmann, der er war, habe er auf diesem
Wege viel Geld verdient, seinem heruntergekommenen Vater und
dadurch sich selbst ein Wappen erworben, seine Capitalien in
Grundbesitz, namentlich in Stratforder Häusern, Ländereien und
Renten angelegt. Der Name Shakespeare bedeute demnach nicht den
Autor, sondern den Bühnenbearbeiter und Regisseur, den Eigenthümer
und Herausgeber, gewissermaßen die Firma jener hochberühmten
Schauspiele, welche die Shakespeare-Dramen heißen, und deren erste
Gesammtausgabe sieben Jahre nach dem Tode Shakespeares erschien.
Dies ist kurz gefaßt der Kern des sogenannten Shakespeare-Mythus,
wie denselben Appleton Morgan, ein amerikanischer Advocat, in
seinem Buche darüber auszuführen gesucht hat (1881). Wer waren nun
die Verfasser der Stücke? Einer oder Viele? Bekannte oder unbekannte

Männer? Nach Morgans Ansicht waren es viele, bekannte und
unbekannte. Es mag manche dunkel gebliebene Gelehrte gegeben
haben, deren Feder der findige Unternehmer gebraucht hat. Wer weiß,
wie sie hießen und in welchen Dachstübchen Londons sie verkümmern
mußten! Einer der Verfasser von bekannter Größe sei Bacon gewesen.
Weil aber ein Orchester die Symphonie nicht macht, sondern das Werk
ausführt, welches ein Einziger erzeugt hat, so könne der Verfasser der
Shakespeare-Dramen auch nur einer gewesen sein. Dieser eine war
Bacon: so lautet die ausgemachte Bacon-Theorie.

II. DAS BACON-GEHEIMNISS.
1. Der Beweis aus dem Mangel aller Beweise.
Da nun alle urkundlichen Zeugnisse irgend eines Zusammenhanges
zwischen Bacon und Shakespeare gänzlich fehlen, so haben die
Baconianer, wie man sie nennt, aus der Noth eine Tugend gemacht und
den völligen Mangel aller sachlichen Beweise für den Beweis der
Sache ausgegeben: so geflissentlich und so gründlich habe Bacon alle
Spuren vertilgt, die seine Autorschaft hätten verrathen können! Da er
von einer gleichzeitigen Größe, wie Shakespeare, hätte reden müssen,
nirgends aber geredet hat, so habe er absichtlich aus tief versteckten
Gründen geschwiegen, welche letztere sich der eindringenden
Nachforschung daraus erklären, aber auch nur daraus: daß er selbst
Shakespeare war! Alle urkundlichen Gegenbeweise aber, deren es viele
und unumstößliche giebt, gelten für Schliche und Machinationen, um
die Autorschaft Bacons zu verbergen und die Welt zu dupiren.
Niemals, solange es eine historische Kritik giebt, hat man dem Mangel
aller Urkunden und Zeugnisse eine solche Beweiskraft zugeschrieben.
Ueber Bacon, den Dichter der Shakespeare-Dramen, herrscht ein
absolutes Schweigen, er ist in den Schleier des tiefsten Geheimnisses
gehüllt: darin besteht das Bacon-Geheimniß. Wo sich aber ein
Mysterium findet, da werden wohl auch die Mythen nicht ausbleiben.
2. Bacon und Shakespeare.
Auf den ersten Blick mag es ja auffallend genug
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