Robur der Sieger | Page 2

Jules Verne
sicherlich! Hier war das Haus freilich
die Erdkugel, und es gab doch kein Mittel, diese zu verlassen und etwa
mit dem Monde, Mars, Venus, Jupiter oder einem anderen Planeten des
Sonnensystems zu vertauschen.
Es galt demnach unbedingt, aufzuklären, was im unendlichen leeren
Raume, doch innerhalb der Erdatmosphäre, vorging. Ohne Luft ist ja
ein Geräusch unmöglich, und da man hier ein solches vernahm --
immer jene fast sagenhafte Trompete -- mußte die Erscheinung auch in
der Lufthülle stattfinden, deren Dichtigkeit sich nach oben zu immer
mehr vermindert und die sich über unserem Sphäroid nur wenige
Meilen hoch verbreitet.

Natürlich bemächtigten sich die Tagesblätter der vorliegenden Frage,
behandelten sie unter allen Gesichtspunkten, beleuchteten oder
verdunkelten dieselbe, berichteten falsche oder wahre Thatsachen,
erregten oder beruhigten ihre Leser im Interesse der Höhe ihrer Auflage
-- und wiegelten endlich die schon halb verwirrten Massen nicht wenig
auf. Welch' Wunder! Die Politik hatte den Laufpaß erhalten und die
Geschäfte gingen deshalb doch nicht schlecht. Aber um was handelte es
sich überhaupt?
Man befragte alle großen Observatorien der ganzen Welt. Wenn diese
keine Antwort gaben, wozu nützten dann solche Observatorien
eigentlich? Wenn die Astronomen, welche selbst in der Entfernung von
hunderttausend Millionen Meilen noch einen Lichtpunkt zu zwei und
drei Sternen aufzulösen vermögen, nicht im Stande waren, den
Ursprung einer kosmischen Erscheinung zu ergründen, die nur wenige
Kilometer über ihnen auftrat, wozu hatte man Astronomen?
Man konnte auch in der That kaum schätzungsweise angeben, wie viel
Teleskope, Brillen, Fernröhre, Lorgnetten, Binocles und Monocles
während der schönen Sommernacht nach dem Himmel gerichtet waren,
noch wie viele Augen sich vor die Oculare und Instrumente von jeder
Art und Vergrößerung hefteten. Vielleicht mehrere Hunderttausend,
und das ist nur gering angeschlagen. Zehnmal mehr, als man am
Firmament mit unbewaffnetem Auge sichtbare Sterne zählt. Nein, noch
keiner, auf allen Punkten der Erdkugel gleichzeitig beobachteten
Sonnenfinsterniß hatte man solche Ehre angethan!
Die Observatorien antworteten, aber unzulänglich. Jedes gab seine
Meinung ab, die stets von der aller anderen abwich, so daß sich daraus
während der letzten Wochen des April und der ersten des Mai ein
wirklicher Bürgerkrieg unter der Gelehrtenwelt entwickelte.
Das Observatorium von Paris erwies sich sehr zurückhaltend. Keine
seiner Abtheilungen sprach sich entschieden aus. In der Abtheilung für
mathematische Astronomie hatte man es für unter seiner Würde
gehalten, Beobachtungen anzustellen; in der für die Meridianmessung
hatte man nichts entdeckt; in der für physikalische Beobachtungen
hatte man nichts wahrgenommen; in der für Geodäsie nichts bemerkt;

in der für Meteorologie war Niemand etwas aufgefallen; in der für die
Berechnungen hatte man nichts gesehen. Das war wenigstens ein
offenes Geständniß. Dieselbe Offenherzigkeit bekundete das
Observatorium von Montsoucis, wie die magnetische Station im Park
Saint-Maur. Dieselbe Achtung vor der Wahrheit bewies das
Längenbureau. Nun ja, Frankreich heißt ja das Land, wo man "frank", d.
h. offen spricht.
Die Provinz war etwas entschiedener in ihrer Aeußerung. Etwa in der
Nacht zwischen dem 6. und 7. Mai hatte sich ein Lichtschein
elektrischen Ursprunges gezeigt, der 20 Secunden nicht überdauerte.
Am Pic-Du-Midi war derselbe zwischen 9 und 10 Uhr Abends
beobachtet worden; im meteorologischen Observatorium des
Puy-de-Dôme hatte man ihn zwischen 1 und 2 Uhr Morgens bemerkt;
auf dem Mont Ventoux in der Provence zwischen 2 und 3 Uhr; in Nizza
zwischen 3 und 4 Uhr; auf den Semnoz-Alpen endlich zwischen
Annecy, le Bourget und dem Genfer See im Augenblicke, als der
Tagesschimmer sich eben bis zum Zenith erhob.
Offenbar konnte man diese Beobachtungen unmöglich in Bausch und
Bogen verwerfen. Es unterlag keinem Zweifel, daß der Lichtschein an
verschiedenen Punkten, und zwar im Verlauf einiger Stunden,
wahrgenommen worden war. Derselbe ging also entweder von
mehreren Herden aus, die sich durch die Erdatmosphäre hinbewegten,
oder, wenn er nur einem einzigen solchen angehörte, so mußte dieser
sich mit einer Schnelligkeit fortbewegen, welche nahezu 200 Kilometer
in der Stunde erreichte.
Hatte man denn aber im Laufe des Tages niemals etwas Besonderes in
der Luft bemerkt?
Nein, niemals.
Erklang nicht wenigstens jene Trompete einmal durch die
Luftschichten?
Nein, zwischen Aufgang und Untergang der Sonne hatte man nicht den
leisesten Ton gehört.

Im vereinigten Königreich Großbritannien wußte man nicht mehr aus,
noch ein. Die Observatorien gelangten zu keinerlei Uebereinstimmung.
Greenwich konnte sich nicht mit Oxford verständigen, obwohl Beide
die Behauptung aufstellten, "an der ganzen Sache sei nichts".
"Eine Gesichtstäuschung! meinte das Eine.
-- Eine Gehörstäuschung!" erwiderte das Andere.
Darüber lagen sie im Streit; auf eine Täuschung lief es jedoch allemal
hinaus. Die Verhandlungen zwischen den Sternwarten zu Berlin und
der zu Wien drohten zu internationalen Verwicklungen zu führen.
Rußland bewies ihnen in der Person des Vorstehers seiner Sternwarte
zu Pulkowa, daß sie Beide Recht hätten, das hänge nur von den
Gesichtspunkten ab, auf die sie sich bezüglich Bestimmung der Natur
jener Erscheinung stellten, die in der Theorie unmöglich schien und in
der Praxis möglich war.
In der Schweiz, auf der Sternwarte zu Säntis, im Canton Appenzell, auf
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