Menschliches, Allzumenschliches | Page 2

Friedrich Wilhelm Nietzsche
und Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in diesem
Betrachte mancherlei "Kunst", mancherlei feinere Falschmünzerei
vorrücken könnte: zum Beispiel, dass ich wissentlich-willentlich die
Augen vor Schopenhauer's blindem Willen zur Moral zugemacht hätte,
zu einer Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug war;
insgleichen dass ich mich über Richard Wagner's unheilbare Romantik
betrogen hätte, wie als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei;
insgleichen über die Griechen, insgleichen über die Deutschen und ihre
Zukunft - und es gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher
Insgleichen? - gesetzt aber, dies Alles wäre wahr und mit gutem
Grunde mir vorgerückt, was wisst ihr davon, was könntet ihr davon
wissen, wie viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und
höhere Obhut in solchem Selbst-Betruge enthalten ist, - und wie viel
Falschheit mir noch noth hut, damit ich mir immer wieder den Luxus
meiner Wahrhaftigkeit gestatten darf?... Genug, ich lebe noch; und das
Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will
Täuschung, es lebt von der Täuschung... aber nicht wahr? da beginne
ich bereits wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter
Immoralist und Vogelsteller - und rede unmoralisch, aussermoralisch,
"jenseits von Gut und Böse"? -
2.
- So habe ich denn einstmals, als ich es nöthig hatte, mir auch die

"freien Geister" erfunden, denen dieses schwermüthig-muthige Buch
mit dem Titel "Menschliches, Allzumenschliches" gewidmet ist:
dergleichen "freie Geister" giebt es nicht, gab es nicht, - aber ich hatte
sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter Dinge zu
bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde,
Acedia, Unthätigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen
man schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu
lachen, und die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, -
als ein Schadenersatz für mangelnde Freunde. Dass es dergleichen freie
Geister einmal geben könnte, dass unser Europa unter seinen Söhnen
von Morgen und Uebermorgen solche muntere und verwegene
Gesellen haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in
meinem Falle, als Schemen und Einsiedler-Schattenspiel: daran möchte
ich am wenigsten zweifeln. Ich sehe sie bereits kommen, langsam,
langsam; und vielleicht thue ich etwas, um ihr Kommen zu
beschleunigen, wenn ich zum Voraus beschreibe, unter welchen
Schicksalen ich sie entstehn, auf welchen Wegen ich sie kommen sehe?
-
3.
Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der Typus "freier Geist"
einmal bis zur Vollkommenheit reif und süss werden soll, sein
entscheidendes Ereigniss in einer grossen Loslösung gehabt hat, und
dass er vorher um so mehr ein gebundener Geist war und für immer an
seine Ecke und Säule gefesselt schien. Was bindet am festesten?
welche Stricke sind beinahe unzerreissbar? Bei Menschen einer hohen
und ausgesuchten Art werden es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie
sie der Jugend eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten
und Würdigen, jene Dankbarkeit für den Boden, aus dem sie wuchsen,
für die Hand, die sie führte, für das Heiligthum, wo sie anbeten lernten,
- ihre höchsten Augenblicke selbst werden sie am festesten binden, am
dauerndsten verpflichten. Die grosse Loslösung kommt für
solchermaassen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele
wird mit Einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen, - sie
selbst versteht nicht, was sich begiebt. Ein Antrieb und Andrang waltet
und wird über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht,
fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; eine heftige gefährliche
Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen

ihren Sinnen. "Lieber sterben als hier leben" - so klingt die
gebieterische Stimme und Verführung: und dies "hier", dies "zu Hause"
ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein plötzlicher Schrecken und
Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen
Das, was ihr "Pflicht" hiess, ein aufrührerisches, willkürliches,
vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde,
Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die
Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick rückwärts,
dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth der
Scham über Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich, dass
sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich
ein Sieg verräth - ein Sieg? über was? über wen? ein räthselhafter
fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der erste Sieg immerhin: -
dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur Geschichte der
grossen Loslösung. Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen
zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur
Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum freien
Willen: und wie viel Krankheit drückt sich an den wilden Versuchen
und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgelöste sich
nunmehr seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht! Er
schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten Lüsternheit; was er
erbeutet, muss die gefährliche Spannung seines Stolzes abbüssen; er
zerreisst, was ihn reizt. Mit einem bösen Lachen dreht er um, was er
verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet:
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