Memoiren einer Sozialistin

Lily Braun
Memoiren einer Sozialistin

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Title: Memoiren einer Sozialistin Kampfjahre
Author: Lily Braun
Release Date: July 15, 2005 [EBook #16302]
Language: German
Character set encoding: ISO-8859-1
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MEMOIREN EINER SOZIALISTIN ***

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Memoiren einer Sozialistin
Kampfjahre
Roman
von
Lily Braun

Albert Langen, München
1911

Erstes Kapitel
Eine gewitterschwüle Juninacht. In der Kabine unten hatte ich es nicht
ausgehalten. Die eingeschlossene Luft legte sich zentnerschwer auf
Kopf und Brust, und das melancholisch eintönige Anschlagen der
Wellen an die Fenster preßte mir das Herz zusammen, als ob das
Unglück selbst es in seinen harten Händen hielte.
»Ich bin seefest,« hatte ich der warnenden Stewardeß zugerufen, als ich
die schwankende Treppe hinaufgestiegen war. Zwei-, dreimal atmete
ich auf, tief und schwer, wie nach überstandener Anstrengung, ehe ich
mich in den Korbstuhl fallen ließ. Am Himmel jagte, vom Wind
gepeitscht, ein schwarzes Wolkenheer. Dunkel und drohend rollten die
Wellen dem Schiff entgegen. Kein Mondstrahl spiegelte sich in ihnen,
kein Stern erleuchtete das finstere Firmament. Langsam verschwanden
am Horizont die Küste von Holland und mit ihr die letzten freundlichen
Lichter.
Ich war allein -- ganz allein. Ich sammelte meine Gedanken, die das
Fieber der letzten Tage durcheinandergewirbelt hatte wie der Sturm die
Schaumperlen auf dem Wasser. War das Gebäude meines neuen
Lebens, das ich mir droben auf den Bergen mit eigenen Händen stolz
und selbstsicher errichtet hatte, nichts als ein Kartenhaus gewesen, das
ein Stoß mit der Hand umzuwerfen vermochte? Ich griff suchend in die
Tasche meines Mantels, es war kein Traum, sondern grausame
Wirklichkeit: meiner Mutter Brief knisterte noch darin. Ich konnte ihn
auswendig. Schon auf der Fahrt von Grainau nach Berlin hatte ich ihn
gewiß zehnmal gelesen.
»Es ist mir, Gott sei Dank, möglich gewesen, Deinen Brief ohne
Wissen Deines Vaters in die Hand zu bekommen,« hieß es darin, »und
ich schreibe Dir in größter Hast, Gott anflehend, daß es meinen Worten

gelingen möchte, das Schrecklichste von uns allen abzuwenden. Was
ich immer schon fürchtete, als ich mit anhören mußte, wie Dein
verstorbener Mann und Du unseren Herrn und Heiland verleugnetet,
und in Euren 'Ethischen Blättern' las, wie Ihr immer wieder für die
Umsturzpartei eintratet, das ist jetzt geschehen. Der Samen, den Georg
in Deine Seele streute, ist aufgegangen: kühl und geschäftsmäßig, als
handle es sich um den Plan eines Spaziergangs, teilst Du uns mit, daß
Du Deine Redaktionsstellungen aufgegeben hast, um Dich ganz und
gar der Sozialdemokratie in die Arme zu werfen. Deine große
Verirrung, Dein Unglaube haben Dich, wie es scheint, für alles, was
Pflicht, Gehorsam, Liebe und Rücksicht heißt, blind und taub gemacht,
sonst müßtest Du wissen, daß Du mit einem solchen Schritt Deinem
ganzen bisherigen Verhalten Deinen Eltern, Deiner Familie gegenüber
die Krone aufsetzest. Dieser Partei, die alles besudelt und mit Füßen
tritt, was uns heilig ist: Gott und Christentum, Familie, Ehe, Monarchie
und Militär, sollen wir unser Kind überlassen? Es wäre in dem
Augenblick für uns gestorben! Aber freilich, das ist Dir einerlei, Du
wirfst leichten Herzens alles über Bord, was Deinem Eigensinn,
Deinem Ehrgeiz, Deiner Eitelkeit hindernd in den Weg tritt. Wenn Du
aber damit Deinen armen Vater mordest -- von mir will ich gar nicht
reden, eine Mutter scheint dazu da zu sein, daß die Kinder sie mit
Füßen treten --, wirst Du auch dann noch Deiner Selbstherrlichkeit froh
werden können?! Du weißt, daß es ihm in letzter Zeit gar nicht gut geht.
Vor ein paar Tagen fiel er vom Pferd; er sagt, er sei gestürzt, Bruder
Walter aber, der dabei war, ist überzeugt, daß es ein leichter
Schlaganfall gewesen ist. Die kleine Braune, deren Ruhe du kennst,
machte keinerlei Bewegung, er glitt eben einfach aus dem Sattel.
Seitdem leidet er an Schwindel und Kopfschmerz und ist schwerer zu
behandeln denn je. Jede Aufregung kann einen neuen Anfall
hervorrufen, der ihn tötet. Ich wollte nur, ich könnte dann mit ihm
sterben, ehe ich so etwas mit Dir erleben müßte ...!«
Als ich diesen Brief erhalten hatte, waren meine Austrittserklärungen
aus den Redaktionen der »Ethischen Blätter« und der »Frauenfrage«
schon versandt worden. Kaum in Berlin angekommen, fand ich die
Mitteilung davon in der Presse und die nötigen Kommentare dazu:
»Frau von Glyzcinski hat den längst erwarteten Schritt getan, und die

Sozialdemokratie kann sich ob dieser ebenso interessanten wie
pikanten Aquisition ins Fäustchen lachen« ... so und ähnlich lauteten
sie.
Am nächsten Morgen in aller Frühe war meine Schwester blaß und
verängstigt zu mir gelaufen:
»Wir sind mit
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