Memoiren einer Sozialistin

Lily Braun
Memoiren einer Sozialistin

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Title: Memoiren einer Sozialistin Lehrjahre
Author: Lily Braun
Release Date: July 15, 2005 [EBook #16301]
Language: German
Character set encoding: ISO-8859-1
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MEMOIREN EINER SOZIALISTIN ***

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Memoiren einer Sozialistin
Lehrjahre
Roman
von
Lily Braun

Albert Langen, München
1909

An meinen Sohn
Die Rosen blühen und die Linden duften. Über dunkle Wälder und
saftgrüne Matten ragen die Berge meiner Heimat zum Himmel empor,
an dem die Sterne funkeln und strahlen, ungetrübt von den Dünsten der
Städte und den Nebeln der Niederung. Die grauen Felsriesen
schimmern silbern im Mondlicht, und in ihren tausend Furchen und
Spalten glänzt noch der Schnee.
Das ist die schönste Nacht des Jahres, die Nacht, in der's in Wald und
Feld von alten Märchen raunt und flüstert, die Nacht, mein Sohn, die
dich mir geschenkt: ein Sonnwendskind, ein Sonntagskind. Elf Jahre
sind es heute. Ist es mir doch, als wäre es erst gestern gewesen, daß du
an meiner Brust gelegen, daß du die ersten Worte lautest, zum
erstenmal die Füßchen setztest. Und nun bist du ein großer Junge! Die
Kindheit bereitet sich aufs Abschiednehmen vor.
Fast am gleichen Tage war es, und mehr als drei Jahrzehnte sind es her,
daß auch ich zu Füßen dieser Berge meinen elften Geburtstag feierte.
Die Tafel bog sich damals unter der Fülle der Geschenke -- auf deinem
Tisch, mein Sohn, lagen heute neben dem duftenden Kuchen unsrer
alten Marie nur ein paar Bücher! --, und Eltern, Verwandte und
Freunde umgaben mich, mit schäumendem Sekt und schmeichelnden
Reden das Geburtstagskind feiernd, -- wir dagegen waren heute allein
und hatten nur tiroler Landwein in den Gläsern. Das Geburtstagskind
von damals war ein blasses, langaufgeschossenes Mädchen mit einem
alten, hochmütig-sarkastischen Zug um den Mund, dessen Lächeln der
Dankbarkeit nur die Frucht guter Erziehung war; du aber bist ein
blühender Knabe, der im Überschwang seiner Freude seine Mutter und
die alte Marie abwechselnd in tollem Tanz auf der Wiese
umherwirbelte. Nur zweierlei ist sich gleich geblieben -- damals und
heute --: auf deinem Tisch wie auf dem meinen lag das erste,

langersehnte Tagebuch, dessen weiße Blätter so verlockend sind für ein
elfjähriges Herz, wie der Eingang ins Zauberreich des Lebens selbst,
und vor dir wie vor mir ragten dieselben Bergesriesen, und derselbe
Wald umrauschte unsre Kinderträume.
Mich hat mein Tagebuch durch's ganze Leben begleitet, und der
Gewohnheit, mir allabendlich vor ihm Rechenschaft abzulegen über
des Tages Soll und Haben, bin ich immer treu geblieben. Am Schlusse
jeden Jahres habe ich an seiner Hand den verflossenen Lebensabschnitt
überlegt und sein Fazit gezogen. Seine lakonischen Bemerkungen -- ein
bloßes trockenes Tatsachenmaterial -- bildeten den festen Rahmen, den
die Erinnerung mit den bunten Bildern des Lebens füllte, und
unverzerrt durch jene schlechtesten Porträtisten der Welt -- Haß oder
Bewunderung --, blickte mein Ich mir daraus entgegen.
Als ich diesmal aus der Tretmühle und der Fabrikatmosphäre meines
Berliner Arbeitslebens in unsre stille Bergeinsamkeit floh, nahm ich die
zweiunddreißig Jahreshefte meines Tagebuches mit mir.
Generalabrechnung muß ich halten.
Auf steilem Felsenpfad bin ich bis hierher gestiegen, meinem
wegkundigen Blick, meiner Kraft vertrauend, weit entfernt von den
Lebenssphären, die Tradition und Sitte mit Wegweisern versah, damit
auch der Gedankenlose nicht irre gehe. Jetzt aber muß ich stille stehen,
muß Atem schöpfen, denn die große Einsamkeit um mich her läßt mich
schaudern. Wohin nun? Hinab zu Tal, zu den Wegweisern? Oder weiter
auf selbstgewähltem Steige?
Die Menschen zürnen mir, und alle nennen mich fahnenflüchtig, die
irgendwann auf der Lebensreise ein Stück Weges mit mir gingen; mir
aber erscheinen sie als die Ungetreuen. Wer hat recht von uns: sie oder
ich? Um die Antwort zu finden, will ich den letzten Wurzeln meines
Daseins nachspüren, wie seinen äußersten Verästelungen; und an dich,
mein Sohn, will ich denken dabei, auf daß du, zum Manne gereift,
deine Mutter verstehen mögest.
In der Sonnwendnacht, die dich mir geschenkt, in der Sonnwendnacht,
in der ringsum auf den Höhen die Feuer glühen, in der Sonnwendnacht,

wo aufersteht, was ewigen Lebens würdig war, seien die Geister der
Vergangenheit zuerst heraufbeschworen.
Obergrainau, den 24. Juni 1908

Erstes Kapitel
Wo die kurische Nehrung beginnt, ihre Dünen in die Ostsee
hinauszustrecken, und das Meer auf der einen, das Haff auf der andern
Seite das Land bespült, steht das Haus meiner Großeltern, in dem ich
geboren bin. Vor Jahrhunderten haben deutsche Ordensritter es als
festes Bollwerk gegen das heidnische Volk des Samlands erbaut; der
breite, viereckige Turm, die
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