Immensee | Page 2

Theodor W. Storm
Ecke gestellt hatte, setzte er sich in den Lehnstuhl und schien mit gefalteten H?nden von seinem Spaziergange auszuruhen. Wie er so sa?, wurde es allm?hlich dunkler; endlich fiel ein Mondstrahl durch die Fensterscheiben auf die Gem?lde an der Wand, und wie der helle Streif langsam weiter r��ckte, folgten die Augen des Mannes unwillk��rlich.
Nun trat er ��ber ein kleines Bild in schlichtem schwarzem Rahmen. ?Elisabeth!" sagte der Alte leise; und wie er das Wort gesprochen, war die Zeit verwandelt: er war in seiner Jugend.
* * * * *
DIE KINDER
Bald trat die anmutige Gestalt eines kleinen M?dchens zu ihm. Sie hie? Elisabeth und mochte f��nf Jahre z?hlen, er selbst war doppelt so alt. Um den Hals trug sie ein rotseidenes T��chelchen; das lie? ihr h��bsch zu den braunen Augen.
?Reinhard!" rief sie, ?wir haben frei, frei! den ganzen Tag keine Schule, und morgen auch nicht."
Reinhard stellte die Rechentafel, die er schon unterm Arm hatte, flink hinter die Haust��r, und dann liefen beide Kinder durchs Haus in den Garten und durch die Gartenpforte hinaus auf die Wiese. Die unverhofften Ferien kamen ihnen herrlich zustatten.
Reinhard hatte hier mit Elisabeths Hilfe ein Haus aus Rasenst��cken aufgef��hrt; darin wollten sie die Sommerabende wohnen; aber es fehlte noch die Bank. Nun ging er gleich an die Arbeit; N?gel, Hammer und die n?tigen Bretter waren schon bereit.
W?hrend dessen ging Elisabeth an dem Wall entlang und sammelte den ringf?rmigen Samen der wilden Malve in ihre Sch��rze; davon wollte sie sich Ketten und Halsb?nder machen; und als Reinhard endlich trotz manches krumm geschlagenen Nagels seine Bank dennoch zustande gebracht hatte und nun wieder in die Sonne hinaustrat, ging sie schon weit davon am andern Ende der Wiese.
?Elisabeth!" rief er, ?Elisabeth!" und da kam sie, und ihre Locken flogen.
?Komm," sagte er, ?nun ist unser Haus fertig. Du bist ja ganz hei? geworden; komm herein, wir wollen uns auf die neue Bank setzen. Ich erz?hl' dir etwas."
Dann gingen sie beide hinein und setzten sich auf die neue Bank. Elisabeth nahm ihre Ringelchen aus der Sch��rze und zog sie auf lange Bindf?den; Reinhard fing an zu erz?hlen: ?Es waren einmal drei Spinnfrauen--" [Fu?note: So f?ngt ein wohlbekanntes M?rchen von den Gebr��dern Grimm an.]
?Ach," sagte Elisabeth, ?das wei? ich ja auswendig; du mu?t auch nicht immer dasselbe erz?hlen."
Da mu?te Reinhard die Geschichte von den drei Spinnfrauen stecken lassen, und statt dessen erz?hlte er die Geschichte von dem armen Mann, der in die L?wengrube geworfen war.
?Nun war es Nacht," sagte er, ?wei?t du? ganz finstere, und die L?wen schliefen. Mitunter aber g?hnten sie im Schlaf und reckten die roten Zungen aus; dann schauderte der Mann und meinte, da? der Morgen komme. Da warf es um ihn her auf einmal einen hellen Schein, und als er aufsah, stand ein Engel vor ihm. Der winkte ihm mit der Hand und ging dann gerade in die Felsen hinein."
Elisabeth hatte aufmerksam zugeh?rt. ?Ein Engel?" sagte sie: ?Hatte er denn Fl��gel?"
?Es ist nur so eine Geschichte," antwortete Reinhard; ?es gibt ja gar keine Engel."
?O pfui, Reinhard!" sagte sie und sah ihm starr ins Gesicht.
Als er sie aber finster anblickte, fragte sie ihn zweifelnd: ?Warum sagen sie es denn immer? Mutter und Tante und auch in der Schule?"
?Das wei? ich nicht," antwortete er.
?Aber du," sagte Elisabeth, ?gibt es denn auch keine L?wen?"
?L?wen? Ob es L?wen gibt? In Indien; da spannen die G?tzenpriester sie vor den Wagen und fahren mit ihnen durch die W��ste. Wenn ich gro? bin, will ich einmal selber hin. Da ist es viel tausendmal sch?ner als hier bei uns; da gibt es gar keinen Winter. Du mu?t auch mit mir. Willst du?"
?Ja," sagte Elisabeth; ?aber Mutter mu? dann auch mit, und deine Mutter auch."
?Nein," sagte Reinhard, ?die sind dann zu alt, die k?nnen nicht mit."
?Ich darf aber nicht allein."
?Du sollst schon d��rfen; du wirst dann wirklich meine Frau, und dann haben die andern dir nichts zu befehlen."
?Aber meine Mutter wird weinen."
?Wir kommen ja wieder," sagte Reinhard heftig; ?sag es nur gerade heraus, willst du mit mir reisen? Sonst geh' ich allein, und dann komme ich nimmer wieder."
Der Kleinen kam das Weinen nahe. ?Mach nur nicht so b?se Augen," sagte sie; ?ich will ja mit nach Indien."
Reinhard fa?te sie mit ausgelassener Freude bei beiden H?nden und zog sie hinaus auf die Wiese.
?Nach Indien, nach Indien!" sang er und schwenkte sich mit ihr im Kreise, da? ihr das rote T��chelchen vom Halse flog. Dann aber lie? er sie pl?tzlich los und sagte ernst:
?Es wird doch nichts daraus werden; du hast keine Courage."
?Elisabeth! Reinhard!" rief es jetzt von der Gartenpforte. ?Hier! Hier!" antworteten die Kinder und sprangen Hand in Hand nach Hause.
* * * * *
IM WALDE
So lebten die Kinder zusammen; sie war ihm oft zu still, er war ihr oft zu heftig, aber sie lie?en deshalb nicht von einander; fast alle Freistunden teilten sie: winters in den beschr?nkten Zimmern ihrer M��tter,
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