Heimatlos | Page 3

Johanna Spyri
und der
Peterli, und das Urschli und das Anne-Deteli und der Kunzli, und dann
noch das Ungetaufte. Immerfort rief man nach dem Stineli aus allen
Ecken, und es war dabei so flink geworden, daß ihm alles aus der Hand
lief wie von selbst. Den Kleinen hatte es immer schon drei Strümpfe
und zwei Schuhe angezogen und festgebunden, eh' das Trudi dem einen,
dem es helfen sollte, nur die Beine dazu in die rechte Stellung gebracht
hatte. Und wenn in der Stube die kleinen Kinder und in der Küche die
Mutter miteinander dem Stineli riefen, dann rief der Vater noch aus
dem Stall herüber, er hatte dort die Kappe verlegt oder die Peitsche war
verknüpft, und das Stineli mußte ihm helfen, denn es fand die Kappe
immer gleich, sie war meistens auf dem Futterkasten, und seine
gelenkigen Finger brachten die Peitschenschnur gleich auseinander. So
war das Stineli immerfort im Laufen und am Arbeiten, aber es war ganz
lustig und munter dabei, und im Winter war es froh über die Schule,

denn dann wanderte es dahin und wieder heim mit dem Rico, und in
der Pause gingen sie auch zusammen. Und im Sommer war es wieder
froh, da gab es schöne Sonntagabende, da es hinaus durfte; dann zog es
aus mit dem Rico, der schon lange drüben unter der Tür gewartet hatte,
und sie liefen Hand in Hand über die große Wiese hin nach der
bewaldeten Anhöhe drüben, die weit in den See hinausgeht wie eine
Insel. Dort oben saßen sie unter den Tannen und schauten in den
grünen See hinunter und hatten einander so viel zu erzählen und zu
fragen, und es war ihnen so wohl, daß das Stineli sich die ganze Woche
und durch alles durch freute, denn es wurde immer wieder Sonntag.
In dem Häuschen aber war noch jemand, der dann und wann nach dem
Stineli rief, das war die alte Großmutter. Die rief aber nicht, damit es
ihr noch helfe, sondern sie hatte ihm etwa einen Blutzger zu geben, der
ihr in die Hand kam, oder sonst etwas, denn Stineli war ihr Liebling
und sie sah es mehr als sonst irgend jemand, wie viel das Stineli schon
tun mußte für sein Alter, mehr als die meisten Kinder. Darum gab sie
ihm gern etwas, daß es auch wie andere Kinder am Jahrmarkt etwas
kaufen könne, etwa ein rotes Bändeli oder ein Nadelbüchsli. Die
Großmutter war auch gegen Rico sehr gut und sah die Kinder gern
beisammen und tat auch manchmal etwas für das Stineli, daß es mit
dem Rico noch ein wenig draußen bleiben durfte.
An den Sommerabenden saß sie immer vor dem Häuschen auf dem
Holzstumpf, der da lag; und oft standen Stineli und Rico bei ihr und sie
erzählte ihnen etwas. Wenn dann die Betglocke zu läuten anfing vom
Türmchen, so sagte sie: »Jetzt müßt ihr jedes ein Vaterunser beten, und
das dürft ihr nie vergessen, daß man am Abend sein Vaterunser beten
muß; dazu läutet die Betglocke.«
»Und seht, Kinder«, sagte die Großmutter von Zeit zu Zeit einmal
wieder, »ich habe schon lange gelebt und viel gesehen, und ich kenne
nicht einen, der nicht einmal in seinem Leben sein Vaterunser nötig
gehabt hätte, aber manchen, der es mit Angst gesucht und nicht mehr
gefunden hat, wenn die Not da war.« Dann standen Stineli und Rico
ganz andächtig da und jedes betete ein Vaterunser.
Jetzt war es Mai und eine kleine Zeit mußte die Schule noch dauern,

lange konnte es nicht mehr sein, denn es grünte unter den Bäumen und
große Strecken waren ganz frei von Schnee. Rico stand schon unter der
Tür seit einer guten Weile und stellte diese Betrachtungen an. Dabei
schaute er immer wieder nach der Tür drüben, ob sie noch nicht
aufgehen wollte. Jetzt ging sie auf und Stineli kam herausgesprungen.
»Bist du schon lang dagestanden? Hast du wieder gestaunt, Rico?« rief
es lachend. »Siehst du, heut' ist es noch früh, wir können langsam
gehen.«
Jetzt nahmen sie einander bei der Hand und wanderten der Schule zu.
»Denkst du immer noch an den See?« fragte Stineli im Gehen.
»Ja gewiß«, versicherte Rico mit ernstem Gesicht, »und manchmal
träumt es mir auch davon und ich sehe so große, rote Blumen daran und
drüben die violetten Berge.«
»Ach, das gilt nicht, was es einem träumt«, sagte Stineli lebhaft; »es
hat mir auch einmal geträumt, der Peterli kletterte ganz allein auf die
allerhöchste Tanne hinauf, und wie er auf dem obersten Zweiglein saß,
da war's nur noch ein Vogel, und er rief herunter: 'Stineli, zieh mir die
Strümpf' an.' Jetzt siehst du doch, daß das nichts sein kann.«
Rico mußte stark nachdenken, wie das sei, denn sein Traum konnte
doch sein und war nur wie etwas, das ihm wieder in den Sinn kam.
Aber jetzt waren sie nahe beim Schulhaus angelangt und ein ganzer
Trupp Kinder lärmte von
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