Die Biene Maja | Page 2

Waldemar Bonsels
ihre erste
Ausfahrt unterrichtet, aber mir ist noch keine vorgekommen, die so
naseweis gewesen wäre. Du scheinst eine Ausnahmenatur zu sein.«

Maja errötete und fuhr mit den beiden zarten Fingerchen ihrer Hand in
den Mund:
»Was ist das?« fragte sie schüchtern, »eine Ausnahmenatur.«
»O, das ist etwas durchaus Unschickliches«, rief Kassandra, die
allerdings die Handbewegung der kleinen Biene meinte und ihre Frage
nicht beachtet hatte. »Jetzt merke genau auf alles, was ich dir sage,
denn ich kann dir nur kurze Zeit widmen, es sind schon wieder neue
Junge ausgeschlüpft und meine einzige Gehilfin in dieser Etage, Turka,
ist ohnehin aufs äußerste überarbeitet und klagte in den letzten Tagen
über Ohrensausen. Setz dich hier.«
Maja gehorchte und schaute mit ihren großen braunen Augen auf ihre
Lehrerin.
»Die erste Regel, die eine junge Biene sich merken muß,« sagte
Kassandra und seufzte, »ist, daß jede in allem, was sie denkt und tut,
den anderen gleichen und an das Wohlergehn aller denken muß. Es ist
bei der Staatsordnung, die wir seit undenkbar langer Zeit als die
richtige erkannt haben und die sich auch aufs beste bewährt hat, die
einzige Grundlage für das Wohl des Staates. Morgen wirst du
ausfliegen. Eine ältere Gefährtin wird dich begleiten. Du darfst zuerst
nur kleine Strecken fliegen und mußt dir die Gegenstände genau
merken, an denen du vorüberkommst, damit du immer zurückfliegen
kannst. Deine Begleiterin wird dir die hundert Blumen und Blüten
beibringen, die den besten Honig haben, die mußt du auswendig lernen,
das bleibt keiner Biene erspart. Die erste Zeile kannst du dir gleich
merken: 'Heidekraut und Lindenblüte.' Sag es nach.«
»Das kann ich nicht,« sagte die kleine Maja, »das ist furchtbar schwer.
Ich werde es ja später auch schon sehn.«
Die alte Kassandra riß die Augen auf und schüttelte den Kopf.
»Mit dir wird es schlecht hinausgehn,« seufzte sie, »das sehe ich schon
jetzt.«

»Soll ich denn später den ganzen Tag Honig sammeln?« fragte die
kleine Maja.
Kassandra seufzte tief und sah die kleine Biene einen Augenblick ernst
und traurig an. Es erschien, als erinnerte sie sich ihres eigenen Lebens,
das von Anfang bis zu Ende voll Mühe und Arbeit gewesen war. Und
dann sagte sie mit veränderter Stimme und sah Maja liebreich an:
»Meine kleine Maja, du wirst den Sonnenschein kennenlernen, hohe
grüne Bäume und blühende Wiesen voller Blumen, Silberseen und
schnelle glitzernde Bäche, den strahlenden blauen Himmel, und zuletzt
vielleicht sogar den Menschen, der das Höchste und Vollkommenste ist,
was die Natur hervorgebracht hat. Über allen diesen Herrlichkeiten
wird dir deine Arbeit zur Freude werden. Sieh, dies alles steht dir ja
noch bevor, mein Herzelein, du hast Grund, glücklich zu sein.«
»Gut,« sagte die kleine Maja, »das will ich denn auch.«
Kassandra lächelte gütig. Sie wußte nicht recht, woher es kam, aber sie
hatte plötzlich eine ganz besondere Liebe zur kleinen Maja gefaßt, wie
sie sich kaum erinnerte jemals für eine andere junge Biene gefühlt zu
haben. Und so mag es denn wohl gekommen sein, daß sie der kleinen
Maja mehr sagte und erzählte, als für gewöhnlich die Bienen an ihrem
ersten Lebenstag hören. Sie gab ihr vielerlei besondere Ratschläge,
warnte sie vor den Gefahren der argen Welt draußen und nannte ihr die
gefährlichsten Feinde, die das Volk der Bienen hat. Endlich sprach sie
auch lange von den Menschen und legte in das Herz der keinen Biene
die erste Liebe zu ihnen und den Keim einer großen Sehnsucht, sie
kennenzulernen.
»Sei höflich und gefällig gegen alle Insekten, die dir begegnen,« sagte
sie zum Schluß, »dann wirst du mehr von ihnen lernen, als ich dir heute
sagen kann, aber hüte dich vor den Hornissen und Wespen. Die
Hornissen sind unsere mächtigsten und bösesten Feinde, und die
Wespen sind ein unnützes Räubergeschlecht ohne Heimat und Glauben.
Wir sind stärker und mächtiger als sie, aber sie stehlen und morden, wo
sie können. Du kannst deinen Stachel gegen alle Insekten brauchen, um
dir Achtung zu verschaffen und um dich zu verteidigen, aber wenn du

ein warmblütiges Tier stichst oder gar einen Menschen, so mußt du
sterben, weil dein Stachel in ihrer Haut hängenbleibt und zerbricht.
Steche solche Wesen nur im Falle der höchsten Not, aber dann tu es
mutig und fürchte den Tod nicht, denn wir Bienen verdanken unser
großes Ansehen und die Achtung, die wir überall genießen, unserem
Mut und unserer Klugheit. Und nun leb wohl, kleine Maja, hab Glück
in der Welt und sei deinem Volk und deiner Königin treu.«
Die kleine Biene nickte und erwiderte den Kuß und die Umarmung
ihrer alten Lehrerin. Sie legte sich mit heimlicher Freude und Erregung
zum Schlaf nieder und konnte vor Neugierde kaum einschlummern,
denn mit dem kommenden Tag sollte sie die große weite Welt
kennenlernen, die Sonne, den Himmel und die Blumen.
In der Bienenstadt war es inzwischen ruhig geworden. Ein großer Teil
der jüngeren Bienen hatte das Reich verlassen, um einen
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