Der Wendekreis - Zweite Folge | Page 2

Jakob Wasserman
sich zu fügen, war ihm selbstverständlich. Er hatte
nie eine abirrende Neigung in sich verspürt. Vor ihm lag geebnete Bahn.
Sein eigenes Treiben beschäftigte ihn nur im Hinblick auf das
erreichbare Ziel. Er gab sich unfragend dem hin, er war sich ohne
Gewicht fast. Er kannte keine Verdunkelung, keine Zweifel. Gehorsam
war bequem, da er Hindernisse aus dem Weg räumte.
Zu Ende des Winters, in dem er siebzehn Jahre alt geworden war,
erkrankte sein Vater. Schon Monate vorher hatte ihn die Spannkraft
verlassen. Er zog sich von den Geschäften zurück, legte Ämter und
Ehrenstellen nieder, wollte seine Freunde nicht sehen, hatte den
Glauben an sich, an die Zukunft, an die Nation verloren, und wurde die

Beute einer unabwendbar einsickernden Schwermut, die den
körperlichen Verfall beschleunigte. Kaum, daß er begraben war, fiel
auch Dietrich in schwere Krankheit, von der er sich erst mit Anbruch
des Frühlings zu erholen begann.
Der Arzt riet, ihn aufs Land zu schicken, und zwar für lange. Damit der
Studiengang nicht geschädigt würde, erachtete er es für zweckmäßig,
wenn er in einer Waldschule Unterkunft fände. Nach mancherlei
Umfragen wollte sich die Ratsherrin für die Schulgemeinde Hochlinden
entscheiden, die sich durch ihre landschaftliche Lage in einem Tal des
südlichen Schwarzwaldes empfahl; aber gutmeinende Bekannte
warnten vor den extrem modernen Ideen, die dort im Schwange seien,
und hauptsächlich vor dem Leiter der Anstalt, Doktor von der Leyen,
der in pädagogischen Fragen als gefährlicher Fortschrittler galt.
Zufällig war Georg Mathys auf Ferienbesuch bei seinen Eltern. Er war
seit einem Jahr Zögling in Hochlinden. Die Mathys, weltberühmte
Seidenweber, im Besitz des Privilegs seit 1560, waren als Familie
ebenbürtig. Nach ihrer Meinung sich zu richten, ihren Rat zu befolgen,
lag nahe und war klug. Die Auskunft beseitigte jedes Bedenken. Georg
selbst schilderte ihr das Leben in der Schulgemeinde ruhig und
anschaulich. Er urteilte nicht, schwärmte nicht, das sagte ihr zu. Daß er
gewillt war, sich Dietrichs anzunehmen, war ein Grund mehr für die
Wahl von Hochlinden. Er war um zwei Jahre älter als Dietrich, machte
aber den Eindruck eines gereiften Charakters. Er war schlank, groß,
hatte etwas Sanftes im Wesen und sehr schöne Augen mit langen
Wimpern.
* * * * *
Es war leicht, sich in Hochlinden einzuleben. Unbefangenes
Entgegenkommen streifte dem Schüchternsten die Fessel ab. Die
Freiheit der Gebärde verwunderte Dietrich mehr als die des Wortes. Er
mußte jedesmal eine Hemmung überwinden, bevor er gelockert und
gleichgestimmt war.
Dies spiegelte sich in seinem Gesicht. Es war ein Gesicht ohne die
schlauen und ängstlichen Verstecktheiten, wie es viele Siebzehnjährige

haben. Es war zu allen Tageszeiten von derselben Frische. Man konnte
ihn aus dem Schlaf rütteln, und die Frische leuchtete. Der Kopf war
klein, der Körper von zartem Bau. Geradezu auffallend war die
Kleinheit und Feinheit seiner Hände. Man hielt ihn anfangs für
verweichlicht, aber er war ein vorzüglicher Turner und Schwimmer,
und im Ringkampf war ihm nur Kurt Fink überlegen, der Berliner.
Damit setzte er sich in Respekt.
Georg Mathys gab ihm freundschaftliche Unterweisung, wie er sich in
bestimmten Fällen zu verhalten habe. Er war mit Dietrich in der
Kameradschaft Doktor von der Leyens. Es fiel Dietrich äußerst schwer,
sich an das Du zu gewöhnen, mit dem er wie alle diesen Mann anreden
sollte. Von der Leyen war es darum zu tun, die Fremdheitsschranke
niederzureißen, die aus dem Lehrer einen Popanz, aus dem Schüler ein
unbeseeltes Instrument machte. Das Mittel der vertraulichen Anrede
war zweischneidig, er verhehlte es sich nicht, aber er wog keine Gefahr,
wenn es ihm darum zu tun war, sich zu bewähren. Er wog nicht einmal
die Enttäuschung. Nicht auf Disziplin kam es ihm an, die er in den
Händen der Pedanten und Moralisten zu einem Erwürgungsapparat
hatte werden sehen, sondern auf den freien Entschluß des Einzelnen,
sich der Erkenntnis eines Führers zu beugen, der zugleich Liebender
war. Er glaubte an die Möglichkeit der Verwandlung in jungen
Menschen, und von diesem Glauben erfüllt, nahm er nur an, was ihn
befestigte.
Zwang und Vorschrift wirkten nicht als solche. Jeder sollte zu der
anspornenden Meinung gebracht werden, als bestimme er selbst das
Ausmaß seiner Pflichten. Ein überlegener Geist handelte nach
wohldurchdachtem Plan, dem sich die untergeordneten Organe willig
fügten.
Das Erstaunen Dietrichs bei den Äußerungen von der Leyens wuchs
von Tag zu Tag. Der Gegensatz zu dem, was er bisher für erlaubt und
erstrebenswert gehalten, war so grell, daß er sich in eine Region
versetzt wähnte, von der gewohnten so verschieden wie Feuer von
Wasser. Er schaute um sich, er besann sich; es war noch die Welt, und
es war nicht mehr die Welt. Die weit hinaus geebnete Bahn

verschwamm im Ungewissen.
Wenige können sich verwandeln. Verwandlung erschüttert das Herz.
* * * * *
An einem jener Diskussionsabende, die zu den Einrichtungen in
Hochlinden gehörten, hielt Doktor von der Leyen eine Rede, worin er
mit der Unwiderstehlichkeit und polemischen Kraft seiner
Beweisführung
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