Der Landprediger | Page 2

Jakob Michael Reinhold Lenz

kann. Und so wird die Abweichung einer halben Sekunde von dem
vorgezeichneten Wege in der Kindheit oft im Alter eine Entfernung
von mehr als 90 Graden, und die Entscheidung der aus den übrigen
Voraussetzungen der Erziehung und der Umstände unerklärbarsten
Phänomene.
Damit ich also meinen Kollegen, den Philosophen über menschliche
Natur und Wesen, manches Kopfbrechen über meinen Helden erspare,
muß ich ihnen hier zum Vorschub sagen, daß einer von den Freunden
des alten Mannheim nicht allein ein großer Landwirt im kleinen war,
sondern auch gar zu gern von der Verbesserung seiner Haushaltung und
Einkünfte allgemeine Schlüsse machte, die sich auf das Gebiet seines
Landesherrn, und, wenn er warm ward, auf das ganze Heilige
Römische Reich ausdehnten. Er las dannenhero zu seiner
Gemütsergötzung alles, was jemals über Staatswirtschaft geschrieben
worden war, schickte auch oft Verbesserungsprojekte ohne Namen,
bald an den Premierminister, bald an den Präsidenten von der Kammer,
auf welche er noch niemals Antwort erhalten hatte. Indessen
schmeichelte er sich doch in heitern Stunden mit der angenehmen
Hoffnung, daß sie für beide nicht könnten ohne Nutzen gewesen sein
und daß unbemerkt zum Wohl des Ganzen mitzuwirken der größte

Triumph des Weisen wäre. Dabei befand er sich um nichts desto übler.
Das ewige Anspornen des allgemeinen Wohls machte ihn desto
aufmerksamer auf sein Privatwohl, welches er als den verjüngten
Maßstab ansah, nach welchem er jenes allein übersehen und beurteilen
konnte.
Dieser glückliche Mensch, der mit allen diesen kameralistischen
Grillen auch einige angenehme Talente besaß, in verschiedenen
modernen Sprachen las, zeichnete und die Harfe spielte, hatte
besonders viel Geschmack an dem offenen Kopf und der
Lernbegierigkeit des kleinen Johannes gefunden und ihn daher in den
Schulferien zu ganzen und halben Monaten zu seinem einzigen
Gesellschafter gemacht, wobei unser kleine Altkluge sich
unvergleichlich wohl befand, denn im Grunde war auch dieser Mann
reicher und wohlhäbiger als sein Vater, und lebte auf einem Fuß, der
sich den Sinnen unsers Dogmatikers auf sein ganzes Leben lang
einschmeichelte. Auch mußte er seinen Rambach immer wieder von
vorne anfangen, wenn er nach Hause kam.
Nun hatte er sich, wie es nicht fehlen konnte, aus alledem, was sein
Vater jemals von Kompendien mit ihm getrieben hatte, vom Heilmann
an bis zum Baier und Dieterikus, seine Religion nach seinem Herzen
zusammengesetzt. Diese war, um von der glücklichen Simplizität der
Empfindungen unsers Lieblings eine Idee zu geben, in wenig Worten
folgende: daß Gott litte, wenn wir sündigten, und daß er auferstünde
und gen Himmel führe, wenn wir andere glücklich machten. Wie sein
Freund aber, der kameralistische Landpfarrer, nahm er immer sein
eigenes Glück zum verjüngten Maßstabe desjenigen an, das er andern
verschaffen wollte.
Nach diesen einfachen Religionsbegriffen konnte es nicht fehlen, er
mußte in den Kollegien der Herren, an die er von seinem Vater
empfohlen war, in den ersten drei Wochen unerträgliche Langeweile
finden. Sie machten ihn alle die Schritte zurückmessen, die er voraus
hatte, und führten ihn durch ein entsetzlich ödes Labyrinth von
Schlüssen von der Wahrheit zu der Wahrscheinlichkeit zurück, mit der
er den Religionsspöttern zu Gefallen nun durchaus sich den Kopf nicht

zerbrechen wollte, weil er in dem festen Glauben stand, daß ein
Religionsspötter nicht bekehrt werden kann, wenn er nicht will, und
daß sich auf den Willen durch keine Schlüsse wirken läßt. Aller
Warnungen seines Vaters ungeachtet also ward er noch in den
Prolegomenen seiner dogmatischen Feldherren gegen die
Religionsspötter ein förmlicher Ausreißer, und studierte die
Kameralwissenschaften, die Chymie und die Mathematik, deren
praktischer Teil eigentlich seine Erholungsstunden beschäftigte.
Es fanden sich sogleich Amanuenses der Herrn Professoren, die alle
seine Gänge auskundschafteten und ihren Archonten die neue
Einrichtung seiner Studien aufs Haar berichteten. Denen Lesern zu
Gefallen, die die deutschen Akademien nicht kennen, muß ich den
Ausdruck Amanuensis erklären. Es sind gewöhnlicherweise
Baurensöhne, die den Professoren anfänglich die Füße bedienen, nach
und nach aber durch den Einfluß der Atmosphäre, in der sie sich mit
ihren Herren herumdrehen, einen solchen Anteil ihres Geistes erhalten,
daß sie sie zu ihrer Hand abrichten können, die Gelder für die
Kollegien einzusammlen, und, wenn einer von den bekannten
Gesichtern in den Hörsälen, wo sie gemeinhin nur die Stühle einreichen,
wenn Fremde kommen, zu fehlen anfängt, ihm so lange auf die Spur zu
gehen, bis sie den Räuber entdeckt haben, der ihn ihrer Schule
abspenstig gemacht hat. Alsdann wird alles angewandt, ihn wieder auf
den rechten Weg zu bringen, Briefe an die Seinigen, bisweilen auch
anonyme Briefe von verborgener Freundeshand, Erinnerungen am
schwarzen Brett und in den Programmen, und, wenn nichts verschlägt,
bei der nächsten erhaschten Veranlassung, eine Zitation durch die Hand
des unermüdeten Pedellen.
Alle diese Besorgnisse schreckten unsern Johannes nicht. Er ging den
Gang seines Herzens und der Bannstrahl in den Briefen seines Vaters
selbst, so innig er ihn verehrte, konnte ihn nicht davon abbringen.
\XDCberall ward der gute arme Alte bedauret, wegen der üblen
Nachrichten, die von seinem Sohne einliefen. Bald hieß
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