Briefe aus der Schweiz | Page 4

Johann Wolfgang von Goethe
f?hig. Der Mensch glaubt verloren zu haben, er hat aber gewonnen. Was er an Wollust verliert, gewinnt er an innerm Wachsthum. H?tte mich nur das Schicksal in irgend einer gro?en Gegend hei?en wohnen, ich wollte mit jedem Morgen Nahrung der Gro?heit aus ihr saugen, wie aus einem lieblichen Thal Geduld und Stille. Am Ende der Schlucht stieg ich ab und kehrte einen Theil allein zurück. Ich entwickelte mir noch ein tiefes Gefühl, durch welches das Vergnügen auf einen hohen Grad für den aufmerksamen Geist vermehrt wird. Man ahnet im Dunkeln die Entstehung und das Leben dieser seltsamen Gestalten. Es mag geschehen sein wie und wann es wolle, so haben sich diese Massen, nach der Schwere und ?hnlichkeit ihrer Theile, gro? und einfach zusammen gesetzt. Was für Revolutionen sie nachher bewegt, getrennt, gespalten haben, so sind auch diese doch nur einzelne Erschütterungen gewesen, und selbst der Gedanke einer so ungeheuren Bewegung gibt ein hohes Gefühl von ewiger Festigkeit. Die Zeit hat auch, gebunden an die ewigen Gesetze, bald mehr bald weniger auf sie gewirkt.
Sie scheinen innerlich von gelblicher Farbe zu sein; allein das Wetter und die Luft ver?ndern die Oberfl?che in Graublau, da? nur hier und da in Streifen und in frischen Spalten die erste Farbe sichtbar ist.
Langsam verwittert der Stein selbst und rundet sich an den Ecken ab, weichere Flecken werden weggezehrt, und so gibt's gar zierlich ausgeschweifte H?hlen und L?cher, die, wann sie mit scharfen Kanten und Spitzen zusammen treffen, sich seltsam zeichnen. Die Vegetation behauptet ihr Recht; auf jedem Vorsprung, Fl?che und Spalt fassen Fichten Wurzel, Moos und Kr?uter s?umen die Felsen. Man fühlt tief, hier ist nichts Willkürliches, hier wirkt ein alles langsam bewegendes ewiges Gesetz, und nur von Menschenhand ist der bequeme Weg, über den man durch diese seltsamen Gegenden durchschleicht.

Genf, den 27. October.
Die gro?e Bergkette, die von Basel bis Genf Schweiz und Frankreich scheidet, wird, wie Ihnen bekannt ist, der Jura genannt. Die gr??ten H?hen davon ziehen sich über Lausanne bis ungef?hr über Rolle und Nyon. Auf diesem h?chsten Rücken ist ein merkwürdiges Thal von der Natur eingegraben — ich m?chte sagen eingeschwemmt, da auf allen diesen Kalkh?hen die Wirkungen der uralten Gew?sser sichtbar sind — das la Vallée de Joux genannt wird, welcher Name, da Joux in der Landsprache einen Felsen oder Berg bedeutet, deutsch das Bergthal hie?e. Eh' ich zur Beschreibung unsrer Reise fortgehe, will ich mit wenigem die Lage desselben geographisch angeben. Seine L?nge streicht, wie das Gebirg selbst, ziemlich von Mittag gegen Mitternacht, und wird an jener Seite von den Septmoncels, an dieser von der Dent de Vaulion, welche nach der Dole der h?chste Gipfel des Jura ist, begr?nzt und hat, nach der Sage des Landes, neun kleine, nach unsrer ungef?hren Reiserechnung aber sechs starke Stunden. Der Berg, der es die L?nge hin an der Morgenseite begr?nzt und auch von dem flachen Land herauf sichtbar ist, hei?t Le noir Mont. Gegen Abend streicht der Risou hin und verliert sich allm?hlich gegen die Franche-Comté.
Frankreich und Bern theilen sich ziemlich gleich in dieses Thal, so da? jenes die obere schlechte H?lfte und dieses die untere bessere besitzt, welche letztere eigentlich La Vallée du Lac de Joux genannt wird. Ganz oben in dem Thal, gegen den Fu? der Septmoncels, liegt der Lac des Rousses, der keinen sichtlichen einzelnen Ursprung hat, sondern sich aus quelligem Boden und den überall auslaufenden Brunnen sammelt. Aus demselben flie?t die Orbe, durchstreicht das ganze franz?sische und einen gro?en Theil des Berner Gebiets, bis sie wieder unten gegen die Dent de Vaulion sich zum Lac de Joux bildet, der seitw?rts in einen kleinen See abf?llt, woraus das Wasser endlich sich unter der Erde verlieret. Die Breite des Thals ist verschieden, oben bei'm Lac des Rousses etwa eine halbe Stunde, alsdann verengert sich's und l?uft wieder unten aus einander, wo etwa zum bessern Verst?ndni? des Folgenden, wobei ich Sie einen Blick auf die Karte zu thun bitte, ob ich sie gleich alle, was diese Gegend betrifft, unrichtig gefunden habe.
Den 24. Oct. ritten wir, in Begleitung eines Hauptmanns und Oberforstmeisters dieser Gegenden, erstlich Mont hinan, einen kleinen zerstreuten Ort, der eigentlicher eine Kette von Reb- und Landh?usern genannt werden k?nnte. Das Wetter war sehr hell; wir hatten, wenn wir uns umkehrten, die Aussicht auf den Genfersee, die Savoyer und Walliser Gebirge, konnten Lausanne erkennen und durch einen leichten Nebel auch die Gegend von Genf. Der Montblanc, der über alle Gebirge des Faucigni ragt, kam immer mehr hervor. Die Sonne ging klar unter, es war so ein gro?er Anblick, da? ein menschlich Auge nicht dazu hinreicht. Der fast volle Mond kam herauf und wir immer h?her. Durch Fichtenw?lder stiegen wir weiter den Jura hinan, und sahen den See in Duft und den Widerschein des Mondes darin. Es wurde immer heller. Der Weg ist eine wohlgemachte Chaussee, nur angelegt um das Holz aus dem
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