Andrea Delfin | Page 2

Paul Heyse
trug, soviel sie in
der Dämmerung sehen konnte, die anständige schwarze Kleidung des
niederen Bürgerstandes, einen ledernen Mantelsack unter dem Arm,
den Hut bescheiden in der Hand. Nur sein Gesicht befremdete die Frau.
Es war nicht jung, nicht alt, der Bart noch dunkelbraun, die Stirn
faltenlos, die Augen feurig, dagegen der Ausdruck des Mundes und die
Art zu sprechen müde und überlebt, und das kurzgeschorene Haar in
seltsamem Gegensatz zu den noch jugendlichen Zügen völlig ergraut.
Gute Frau, sagte er, ich habe Euch schon im Schlafe gestört, und sogar
vielleicht vergebens. Denn, um es gleich zu sagen: wenn Ihr kein
Zimmer habt, das auf einen Kanal hinausgeht, bin ich nicht Euer Mieter.
Ich komme von Brescia, mein Arzt hat mir die feuchte Luft Venedigs
empfohlen für meine schwache Brust; ich soll überm Wasser wohnen.
Nun Gott sei Dank! sagte die Witwe, so kommt doch einmal einer, der
unserem Kanal Ehre antut. Ich hatte einen Spanier vorigen Sommer,
der auszog, weil er sagte, das Wasser habe einen Geruch, als wären
Ratten und Melonen darin gekocht worden! Und Euch ist es empfohlen
worden? Wir sagen wohl hier in Venedig:
Wasser vom Kanal. Kuriert radikal.
Aber es hat einen eigenen Sinn, Herr, einen bösen Sinn, wenn man
bedenkt, wie manches Mal auf Befehl der Oberen eine Gondel mit
Dreien auf die Lagunen hinausfuhr und mit Zweien wiederkam. Davon
nichts mehr, Herr--Gott behüt' uns alle! Aber habt Ihr Euren Paß in
Ordnung? Ich könnt' Euch sonst nicht aufnehmen.
Ich hab' ihn schon drei Mal präsentiert, gute Frau, in Mestre, bei der
Wachtgondel draußen und am Traghetto. Mein Name ist Andrea Delfin,
mein Stand rechtskundiger Schreiber bei den Notaren, als welcher ich
in Brescia fungiert habe. Ich bin ein ruhiger Mensch und habe nie mit
der Polizei gern zu schaffen gehabt.
Um so besser, sagte die Frau, indem sie jetzt ihrem Gaste voran die
Treppe wieder hinaufstieg. Besser bewahrt als beklagt, ein Aug' auf die
Katze, das andere auf die Pfanne, und es ist nützlicher, Furcht zu haben
als Schaden. O, über die Zeiten, in denen wir leben, Herr Andrea! Man
soll nicht drüber nachdenken. Denken verkürzt das Leben, aber
Kummer schließt das Herz auf. Da seht, und sie öffnete ein großes
Zimmer, ist es nicht hübsch hier, nicht wohnlich? Dort das Bett, mit

meinen eigenen Händen hab' ich's genäht, als ich jung war, aber am
Morgen kennt man nicht den Tag. Und da ist das Fenster nach dem
Kanal, der nicht breit ist, wie Ihr seht, aber desto tiefer, und das andere
Fenster dort nach der kleinen Gasse, das Ihr zuhalten müßt, denn die
Fledermäuse werden immer dreister. Seht da überm Kanal, fast mit der
Hand abzureichen, der Palast der Gräfin Amidei, die blond ist wie das
Gold und durch ebensoviel Hände geht. Aber hier steh' ich und
schwatze, und Ihr habt noch weder Licht noch Wasser und werdet
hungrig sein.
Der Fremde hatte gleich beim Eintreten das Zimmer mit raschem Blick
gemustert, war von Fenster zu Fenster gegangen und warf jetzt seinen
Mantelsack auf einen Sessel. Es ist alles in der besten Ordnung, sagte
er. Über den Preis werden wir uns wohl einigen. Bringt mir nur einen
Bissen und, wenn Ihr ihn habt, einen Tropfen Wein. Dann will ich
schlafen.
Es war etwas seltsam Gebieterisches in seiner Gebärde, so milde der
Ton seiner Worte klang. Eilig gehorchte die Frau und ließ ihn auf kurze
Zeit allein. Nun trat er sofort wieder ans Fenster, bog sich hinaus und
sah den sehr engen Kanal hinab, der durch kein Zittern seiner
schwarzen Flut verriet, daß er teilhabe an dem Leben des großen
Meeres, dem Wellenschlag der alten Adria. Der Palast gegenüber stieg
in schwerer Masse vor ihm auf, alle Fenster waren dunkel, da die
Vorderseite nicht dem Kanal zugekehrt war; nur eine schmale Tür
öffnete sich unten, dicht über dem Wasserspiegel, und eine schwarze
Gondel lag angekettet vor der Schwelle.
Das alles schien den Wünschen des neuen Ankömmlings durchaus zu
entsprechen, nicht minder auch, daß man ihm durch das andere Fenster,
das nach der Sackgasse ging, nicht ins Zimmer sehen konnte. Denn
drüben lief eine fensterlose Wand ohne andere Unterbrechung als
einige Vorsprünge, Risse und Kellerlöcher hin, und nur den Katzen,
Mardern und Nachtvögeln konnte dieser düstere Winkel angenehm und
wohnlich erscheinen.
Ein Lichtstrahl aus dem Flur drang ins Gemach, die Tür öffnete sich,
und mit der Kerze in der Hand trat die kleine Witwe wieder ein, hinter
ihr die Tochter, die in der Eile noch einmal hatte aufstehen müssen, um
beim Empfang des Gastes zu helfen. Die Gestalt des Mädchens war fast
noch kleiner als die der Mutter, erschien aber doch durch die höchste

Zierlichkeit und kaum gereifte Schlankheit aller Formen größer und
wie auf den Fußspitzen schwebend, während man auch im Gesicht
dieselbe Ähnlichkeit und denselben Unterschied, der auf Rechnung der
Jahre kam, auf den ersten
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